Pressekonferenz mit Stalins Tochter in den USA, April 1967.
In der Schweiz wurde Stalins Tochter vor den Medien versteckt, in den USA begann ihr Aufenthalt gleich mit einer Pressekonferenz. Wikimedia

Frau Staehelin, Stalins Tochter

Im Frühling 1967 reiste Stalins Tochter in die Schweiz ein. Mitten im Kalten Krieg. Die Geschichte eines diplomatischen Drahtseilakts.

Thomas Bürgisser

Thomas Bürgisser

Thomas Bürgisser ist Historiker bei der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis).

Es musste schnell gehen. «Dringend» ersuchte am 7. März 1967 der US-Botschafter in Bern, John S. Hayes, um eine Audienz bei Bundesrat Willy Spühler. Im Gespräch eröffnete der Amerikaner dem Vorsteher des Politischen Departements (EPD, heute EDA) die Lage: Swetlana Allilujewa, die einzige Tochter Stalins hatte ihren Besuch in Indien anlässlich der Beisetzung ihres Lebenspartners genutzt, um bei der US-Botschaft in Neu-Delhi politisches Asyl zu beantragen. Welch′ Neuigkeit: ein hochkarätiger «Absprung», der für Moskau peinlicher kaum sein konnte. Eine Insiderin, die über kompromittierende Informationen zum Privatleben der Chefetage des Kremls verfügen musste, sucht den Schutz der USA. Ein grosser Triumph der «freien Welt», könnte man meinen. Doch weit gefehlt...
Asylantrag der USA für Swetlana Allilujewa.
Der Asylantrag der USA für Swetlana Allilujewa... Dodis
Willy Spühler an der Bundsratswahl von 1959.
... setzte Bundesrat Willy Spühler unter Druck. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
Seit 1963 waren Washington und Moskau im Rahmen einer «Entspannungspolitik» um eine Annäherung bemüht, etwa in der Frage der Abrüstung. Dass nun in der Gestalt Allilujewas plötzlich eine Überläuferin auf den Plan trat, die den Kreml in eine unangenehme Lage brachte, passte der US-Diplomatie nicht. Zumal Allilujewa brisantes Gepäck mit sich führte: Das Manuskript ihrer Memoiren, die sie unter dem Titel «20 Briefe an einen Freund» veröffentlichen sollte. Eine «Ausschlachtung» dieses Materials und der Person Allilujewas «im Sinne des Kalten Krieges», so die geheime Zusicherung, die das State Department Moskau gab, sollte um jeden Preis verhindert werden. Washington wollte Stalins Tochter deshalb nicht einreisen lassen. Und da kam die Schweiz ins Spiel.
Stalins einzige Tochter Swetlana, hier auf einem Foto von 1935, brachte den Westen in diplomatische Nöte.
Stalins einzige Tochter Swetlana, hier auf einem Foto von 1935, brachte den Westen in diplomatische Nöte. Wikimedia
Botschafter Hayes appellierte an die humanitäre Tradition der Eidgenossenschaft und bat Spühler, Swetlana Allilujewa aufgrund der delikaten Situation – zumindest vorübergehend – in der Schweiz aufzunehmen. Unter Zeitdruck entschloss sich der Bundesrat, dem amerikanischen Gesuch zu entsprechen. Dies jedoch nur unter der Bedingung, dass Allilujewa nicht als Flüchtling, sondern mit einem Touristenvisum «zu Erholungszwecken» in die Schweiz einreiste und sich schriftlich dazu verpflichtete, sich jeglicher politisch-publizistischer Tätigkeiten zu enthalten. Die USA mussten ihrerseits einwilligen, innert dreier Monate ihre «Weiterreise» zu organisieren.

Einreise «zu Erholungszwecken»

Am 11. März 1967 landete Allilujewa mit einer gecharterten Maschine in Genf. Die vom EPD gewünschte «diskrete Übernahme durch die Bundespolizei wurde unnötig erschwert», weil die Presse vorgängig von ihrer Ankunft Wind bekommen hatte und ein Aufgebot von Journalisten sie am Flughafen erwartete. Gleichentags wurde Allilujewa ins Berner Oberland verbracht und unter falschem Namen im Hotel Jungfraublick in Beatenberg einquartiert. Justizminister Ludwig von Moos hielt eine Pressekonferenz ab, bei der er betonte, Frau Allilujewa sei erholungsbedürftig und möchte in Ruhe gelassen werden. Mit der Betreuung des «Feriengastes» beauftragte der Bundesrat einen Spitzenbeamten des EPD, den Basler Juristen und damaligen Chef der «Sektion Ost» des Departements, Antonino Janner.
Ankunft von Swetlana Allilujewa am Flughafen Genf, März 1967.
Ankunft von Swetlana Allilujewa am Flughafen Genf, März 1967. Dukas
Das erste Problem, das sich Janner stellte, war das Interesse der schweizerischen und internationalen Medien. Schnell wimmelte es im Oberland nur so von rasenden Reportern, Verlegern und wohl auch von Geheimdienstagenten. «Under cover» musste die Bundespolizei Stalins Tochter aus Beatenberg wegbringen und versteckte sie in der Folge als «Miss Carlen aus Irland» zuerst bei den Klarissinnenschwestern in St. Antoni im Senseland, dann im Visitandinnenkloster in Freiburg. Die Presse war in Aufruhr, vor allem der «Blick» wetterte gegen diese «Verschleierungsaktion der Behörden zur Irreführung der Öffentlichkeit». Für die Boulevardzeitung gehörten die Sensationsgeschichten Allilujewas – einer «wandelnden politischen Zeitbombe» – in die eigenen Klatschspalten. Alles, was das verhindere, sei «Amtswillkür». Bundesbern dagegen argumentierte mit dem Schutz ihrer Persönlichkeit und kritisierte die «Menschenjagd» der «Gangster»-Reporter aufs Schärfste.

Staats­in­ter­es­sen versus indivi­du­el­le Freiheit

Die Landesregierung befand sich in einem Dilemma, es galt, zwischen staatlichem Interesse und individuellen Freiheitsrechten abzuwägen. «Die Tragödie Swetlanas ist», erläuterte Janner in zwei geheimen Notizen für die Bundesratssitzung vom 17. März, «dass wir nicht nur den Vereinigten Staaten, sondern selbst der Sowjetunion im jetzigen Moment einen Dienst erweisen, aber nur, indem wir praktisch Swetlana mundtot machen und sie, auch wenn sie, weil ihr nichts Anderes übrigbleibt, dazu einwilligt, von der Aussenwelt abschliessen». Janner, strenger Antikommunist und «Kalter Krieger» helvetischer Prägung, konnte diese «zweifellos bequemste Haltung» nicht gefallen. Er plädierte gegen eine Staatsräson, mit der sich die Schweiz auf Kosten Allilujewas zur Zudienerin von Grossmachtsinteressen machte. Stattdessen schlug er vor, Stalins Tochter von ihrem «Schweigegelübde» zu befreien. Bern solle sich der freiheitlichen Tradition des Landes entsinnen, «der moralische Gewinn für die Schweiz wäre wohl immens». Dafür wollte Janner auch die Brüskierung der USA und einen Abbruch der Beziehungen zur UdSSR in Kauf nehmen. Dem Bundesrat ging dies zu weit. Seit Beginn der «Entspannungspolitik» interessierte sich der Schweizer Aussenhandel zunehmend für das Wirtschaften mit dem Osten. «Unsere Beziehungen mit der UdSSR zählen mehr als der Status von Frau A.», gab Bundesrat Nello Celio zu Protokoll. Wie weiter? Über Geheimdienstkanäle trat Moskau mit der «einzigen vernünftigen Lösung» direkt an den Chef des schweizerischen Nachrichtendienstes, Oberstbrigadier Pierre Musy, heran. Der hochrangige KGB-Offizier Michail Rogow, eine «alte Bekanntschaft» Musys, bat die Schweizer Behörden, sie möchten doch darauf hinwirken, Allilujewa, die «teilweise unzurechnungsfähig» sei, zu überreden, in die Sowjetunion zurückzukehren – unter Zusicherung des Status quo ante. Über seine Diplomatenkreise machte der Kreml zunehmend Druck und warnte das EPD vor einer Verschlechterung der Beziehungen.
Porträt von Swetlana Allilujewa, 1970.
Für Swetlana Allilujevas individuellen Freiheitsrechte wollte... Wikimedia
Bundesrat Nello Celio wollte die Beziehungen zur UdSSR nicht gefährden.
... Bundesrat Nello Celio die Beziehungen zur UdSSR nicht gefährden. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
In der Karwoche entsandten die USA ihren profundesten Russland-Spezialisten, George F. Kennan, in geheimer Mission in die Schweiz, um mit den Behörden und Allilujewa zu verhandeln und die «Übernahme» zu besprechen. In der zentralen Frage der Veröffentlichung der Memoiren wurde man schnell handelseinig. Kennan argumentierte, diese seien weniger ein politisches als ein «literarisch hochstehendes und historisch äusserst wertvolles Dokument» und könnten deshalb in den USA publiziert werden. Die Schweizer Behörden erlaubten Allilujewa dafür – Janners Minimallösung –, vorgängig mit dem Verleger Verhandlungen aufzunehmen und die Übertragung ins Englische zu organisieren. Die Übersetzung als solche sei ja bestimmt keine politische Tätigkeit, meinte Janner. Dieser diplomatische Geheimdienstkrimi endete für die Schweiz nach sechs Wochen am 21. April 1967, als Allilujewa unter dem Decknamen «Frau Staehelin» eine Swissair-Maschine in Richtung New York bestieg. Dort holte sich die US-Presse die Lorbeeren, die den Schweizer Medien verwehrt blieben: Allilujewa gab bereitwillig Auskunft über ihre Flucht. Während der «Blick» grollte, war der Bundesrat mit sich zufrieden. Laut EPD-Chef Spühler war die Angelegenheit ausgezeichnet abgewickelt worden. Man habe sich «ungeschoren» aus der Affäre gezogen und den Supermächten erst noch einen Gefallen getan. Auch Allilujewa hatte bei ihrer Abreise eine überschwängliche Dankadresse an die Schweiz hinterlassen.
Pressekonferenz von Swetlana Allilujewa nach ihrer Ankunft in den USA im April 1967. YouTube / British Pathé
Dennoch, das «Problem der menschlichen Freiheit», gemäss Antonino Janners Notiz der zentrale Punkt im Fall Allilujewa, hatte der Bundesrat mit seinem Kalkül nicht gelöst. Zwischenzeitlich sei sich Stalins Tochter, schreibt Janner, im «freien Westen» gefangener vorgekommen als in Moskau. Swetlana Allilujewas Buch «20 Briefe an einen Freund» erschien im Herbst 1967 und wurde zum Bestseller. Stalins Tochter wurde dadurch finanziell unabhängig, doch richtig glücklich wurde sie nie. Vielleicht auch, weil ihr Wunsch, sich später in der Schweiz niederzulassen, nie in Erfüllung ging. Die Schweizer Behörden verweigerten ihr dies. 1984 zog Allilujewa kurz zurück in die Sowjetunion, nur um kurze Zeit später wieder zurück in die USA zu reisen. Dort starb sie 2011 verarmt und alleine in einem Altersheim.
Dieser Artikel von Thomas Bürgisser wurde erstmals von der WOZ im Dezember 2011 publiziert. Er basiert auf Dokumenten der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis) und wurde durch einen weiteren WOZ-Artikel vom März 2017 und weiteren Dodis-Dokumenten ergänzt.

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