Serie: Das Schweizer Primar­schul­sys­tem – Teil 3

Im 20. Jahrhundert entwickelte sich die Schule von einer die Knaben bevorzugenden zur Bildungsinstitution für die gesamte Bevölkerung. Die grosse Herausforderung für die Zukunft ist das Angebot von Ganztagesstrukturen.

Hans-Ulrich Grunder

Hans-Ulrich Grunder

Professor Hans-Ulrich Grunder ist Direktor des Instituts für Bildungswissenschaften der Universität Basel.

Obwohl eingangs des 20. Jahrhunderts der Primaschullehrplan auf die Bildungsbedürfnisse der künftigen Männer ausgerichtet war, führten beinahe alle Kantone gleichviele Schuljahre für Mädchen und Jungen ein – mit Ausnahme von Solothurn, Freiburg und Thurgau, wo die Mädchen ein Jahr früher, und Luzern und Nidwalden, wo sie sogar zwei Jahre früher aus dem Schulobligatorium entlassen wurden als die Jungen.

Als die Reformer, unter ihnen jene der Genfer Schule, der Education nouvelle, versuchten, anfangs des 20. Jahrhunderts die Schule in eine «kindgerechte» Institution umzuwandeln, geriet die als lehrerzentriert und sachorientiert heftig kritisierte Primarschule unter Druck. Den Schulreformern schwebte ein Unterricht vor, der die Kräfte der Kinder harmonisch ausbildet, ihre vielfältigen Interessen zum Ausgangspunkt nimmt, fächerübergreifendes und handelndes Lernen initiiert und den Übertritt vom Kindergarten in die Schule sinnvoll gestaltet. Das Institut Jean-Jacques Rousseau, die Ecole du Mail und das Maison des Petits trugen diesen Reformelan in eine in Genf ab 1912 akademisierte, tertiär angelegte Lehrerbildung und über die Grenzen Genfs hinaus.

Zwar setzten während der folgenden Jahrzehnte die Primarlehrkräfte in ihrem Unterricht schulreformerische Postulate um. Doch dieser Prozess verlief schleppend. Erst ab den 1940er-Jahren drangen didaktisch-methodische Neuerungen allmählich in den Primarschulunterricht ein, wobei die ersten vier Schuljahre fortan der Nährboden für schulreformerisches Bemühen in anderen Schulstufen und -arten war. In den 1990er-Jahren revidierten etliche Kantone die Lehrpläne: In der deutsch- und der französischsprachigen Schweiz wurde der Fremdsprachenunterricht in die 4. oder 5. Klasse vorverlegt, im Tessin wurde Französisch ab der 3. Klasse eingeführt. Der Sach- und der Sozialkundeunterricht (wo Fächer wie Geschichte, Geografie und Lebenskunde zusammengefasst wurden) war ebenso wie individualisierte Lernformen im Werkstatt- und im Wochenplanunterricht, in der deutsch- und der italienischsprachigen Schweiz verbreiteter als in der Romandie.

Im Schuljahr 1998/1999 besuchten 467‘451 Kinder die schweizerischen Primarschulen. Davon waren 49 Prozent Mädchen. 47‘013 Kinder besuchten eine Sonderschule. Die durchschnittliche Klassengrösse lag bei etwa 20 Kindern und schwankte zwischen 12 und 25 Kindern. Noch im Schuljahr 2001 variierte die Gesamtzahl der Unterrichtsstunden pro Primarschulkind (1.-9. Klasse) kantonal zwischen 7300 und 9000 Lektionen. Diese Differenz entspricht einer Dauer von zwei Schuljahren!

Randzeiten und Ganztagesstrukturen

Die Entwicklung der Primarschule illustriert in bildungspolitischer Hinsicht, wie ein unentgeltlicher, konfessionsloser, obligatorischer und allgemeinbildender Schultyp institutionell betrachtet als eine Volksschule konsolidiert wurde, die sich als Primarschule profilierte, in didaktischer Hinsicht eine sich ausprägende, weitgehend pädagogisch begründete Primarschuldidaktik entwickelte und unterrichtsmethodisch gesehen stets reforminitiativ war.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Primarschule ein Schultyp, dessen Auftrag, (obwohl er sich seit seiner Entstehung auch verändert hat), weiterhin darin besteht, allen Kindern eine allgemeine Grundbildung sowie die Erziehung zur autonomen Persönlichkeit und zum demokratischen Staatsbürger zu vermitteln. Gegenwärtig wird die Einführung von Tagestrukturen an der Primarschule erörtert, was die Betreuung der Kinder und Jugendlichen über Mittag und in Randzeiten gewährleisten würde. Dazu kommt die Einführung einer Basisstufe, die den bisherigen Kindergarten und die ersten beiden Jahre der Primarschule zusammenführt. 2009 trat die Interkantonale Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule (Harmos-Konkordat) in Kraft. Die beigetretenen Kantone verpflichteten sich, die obligatorische Schule in der Schweiz zu harmonisieren, auf nationaler Ebene einen Beitrag zur Qualitätssicherung zu leisten und die Durchlässigkeit im System zu sichern. Die Umsetzung dieses Unterfangens ist allerdings erst partiell erfolgt.

Schulzeugnis für Trudy Koller, Schule St. Moritz, 1914. Foto: Schweizerisches Nationalmuseum

Mädchen am ersten Schultag, aus dem privaten Fotoalbum von Ignaz Herzfeld. Das Bild wurde in den 1950er-Jahren gemacht. Foto: Schweizerisches Nationalmuseum

Der Bundesrat mit einer Schulklasse auf dem «Bundesratsreisli» in Appenzell, 1990. Foto: Schweizerisches Nationalmuseum

Dorfschule im Tessin um 1920. Foto: Schweizerisches Nationalmuseum/Rudolf Zinggeler

Weitere Beiträge