New York Ende des 19. Jahrhunderts. Die neue Welt war schon einen Schritt weiter als die beschauliche Schweiz, die einigen Zeitgenossen zu eng wurde.
Wikimedia

Der Traum von der schönen neuen Welt

1891 wanderte die erst 19-jährige Stephanie Cordelier alleine in die USA aus. Es war eine Flucht vor der eigenen Familie und ein Neubeginn in einer anderen Welt.

Benedikt Meyer

Benedikt Meyer

Benedikt Meyer ist Historiker und Autor.

Ungewohnt war es für alle: Ende August 1891 ging Familie Cordelier erstmals zum Fotografen. Dieser versah sie zuerst einmal mit neuen Kleidern: Stephanie bekam einen Blazer mit Korsage, die Buben richtige Herrenanzüge und auch Vater Jules erhielt zumindest ein Kettchen, das eine Taschenuhr andeutete, die sich der Maler nie und nimmer hätte leisten können. Auch der Schmuck war geliehen. Trotz aller Verkleidung verrieten die Schuhe, dass die Cordeliers arme Schlucker waren. Die Familie war zu Fuss von Oberwil in die Stadt gelaufen, weil sie sich die Bahnfahrt nicht leisten konnte. Dementsprechend staubig war das Schuhwerk.

Das Familienbild der Cordeliers. Hinten: Louis, Stephanie, Jules, Jules junior. Vorne: Marie, Elise, Martina und Louise.

Auf uns Betrachter wirkt das Bild inszeniert – die Kleider, die Staffagen, die Anordnung der Leute. Beinahe können wir den Fotografen hören, wie er sagt «legen Sie Ihrer Frau doch die Hand auf die Schulter». Jules tut es – in einer Art, die keinerlei Verbindung herstellt, seine Hand lastet auf Martina. Das Detail steht sinnbildlich für die unfreiwillige und äusserst unglückliche Ehe. Martina flüchtete sich in die Religion, Jules in den Alkohol. Stephanie flüchtete sich in Träumereien über die Neue Welt. Mit 19 Jahren brach sie endlich dorthin auf. Allein.

Mit dem Zug fuhr sie nach Antwerpen. Dort bestieg sie die «Westernland», ein Dampfsegelschiff, das etwa 1300 Personen transportierte. Oben, in der ersten Klasse, gab es luxuriöse Salons mit farbigen Fenstern und elektrischem Licht. Aber Stephanie reiste im Zwischendeck und schlief auf einem Strohsack auf einer Pritsche. Zwölf Tage verbrachte sie auf See. Ihr Reisegeld ging unterwegs verloren und tauchte erst auf, als sie am letzten Tag frische Kleidung anzog. Am 24. September 1891 erreichte die «Westernland» schliesslich New York.

Das Auswandererschiff «Westernland» auf einer kolorierten Postkarte von 1883.

Auswanderung ohne Sprachkenntnisse

Stephanies Start war schwierig. Sie kam in die völlig überlastete Aufnahmestation «Castle Garden». Erst nach endloser Wartezeit brachte ein Agent sie und ein knappes Dutzend eher zwielichtige Männer aus dem Gebäude. Er führte die Gruppe im Eiltempo durchs finstere New York und brachte sie zu einem Fährschiff über den Hudson River. Dort wurde Stephanie in den Ladies-Bereich geschickt und verlor ihre Gruppe aus den Augen. So stand sie kurz darauf orientierungslos, allein und ohne ein Wort Englisch zu sprechen in der New Yorker Nacht.

Die Reise nach Ohio ging schliesslich doch noch gut aus. Stephanie erreichte das Städtchen Defiance, wo ihr eine Tante eine Stelle vermittelte: als Dienst- und Kindermädchen bei der Obwaldner Ärztefamilie Berchtold. Hier erlebte sie ein völlig anderes Familienleben. Anders als ihre eigenen Eltern hatten die Berchtolds aus Liebe geheiratet. Besonders spannend lesen sich Stephanies Memoiren die Beobachtungen zur Hausarbeit. Welches Handwerk das Wäsche waschen war. Wie sie im Frühling die Teppiche mit einer Zange herauslöste, in den Garten trug um sie auszuklopfen und sie anschliessend wieder am Holzboden festhämmerte. Dass der Haushalt samt Arztpraxis über keinerlei fliessendes Wasser verfügte. Oder dass der Arzt einen Papagei hatte, dem er im Eifer der Präsidentschaftswahlen beibrachte, «Hooray for Cleveland!» zu krächzen.

Fünf Jahre lang blieb Stephanie in den USA. Sie machte überraschende, amüsante, berührende und einige tragische Erfahrungen in Defiance, zog anschliessend aufs Land und lernte nochmals eine komplett neue Welt kennen. Dann aber rutschten die USA in eine schwere Wirtschaftskrise, Stephanies Perspektiven verdüsterten sich dramatisch, sie war immer noch unverheiratet und die Auswanderin sehnte sich nach ihrer Familie. Also tat sie etwas, was in der Schweizer Auswanderergeschichte zwar häufig vorkam, aber selten thematisiert wird: Sie reiste zurück.

Eigentlich wollte sie bloss zu Besuch bleiben – aber dann warf das Schicksal ihre Pläne jäh über Bord und ihr Leben verlief erneut in einer komplett unerwarteten Richtung.

Couragiertes Leben

Stephanie Cordelier befreite sich aus der erstickenden Enge ihrer Oberwiler Kindheit und reifte durch ihr Erfahrungen in Amerika zu einer couragierten Frau, die den Konflikt mit ihrem Vater riskierte, trotz tief katholischer Prägung einen Protestanten heiratete und sich auch im Ersten Weltkrieg mutig und menschlich verhielt. Ihre Biographie ist zum einen geprägt durch die Umstände ihrer Zeit - und zum andern durch die Kraft, mit der sie ihre eigenen Wege ging.

Die Katholikin Stephanie Cordelier heiratete 1899 einen Protestanten - eine Seltenheit in dieser Zeit.

Weitere Beiträge