Der Rütlifan
Der Bayernkönig Ludwig II. war ein etwas merkwürdiger Monarch. Aber er war ein Fan der Schweiz und vor allem der Innerschweiz. Er wollte sogar das Rütli kaufen.
Am 20. Oktober 1865 ist das Hotel Schweizerhof in Luzern schon ziemlich voll. Als ein Reisender aus Bayern mit Begleitern ein Hotelzimmer begehrt, sind nur noch drei Zimmer frei. Der Bayer bekommt ein einfaches Zimmer im vierten Stock, seine Begleiter zwei Zimmer im zweiten Stock. Als die Hotelleitung erfährt, dass der deutsche Gast Ludwig II. ist, der König von Bayern höchstpersönlich, ist ihnen das ausserordentlich peinlich; sofort stellt sie dem Monarchen die Fürstensuite im ersten Stock zur Verfügung. Doch der König lehnt dankend ab, vielleicht ist er ja auch froh, dass sein Inkognito für einmal funktioniert hat. Denn, der junge Bayernkönig besucht die Schweiz nicht offiziell als Staatsgast, sondern inoffiziell, quasi als Privatmann. Er amtiert erst seit einem Jahr als König. Doch bereits ist er der Politik überdrüssig. Ihn langweilen die Ränkespiele im Deutschen Bund, sodass er nur selten in München am Regieren ist. Viel lieber widmet er sich der Kultur.
Nachdem er die Oper Wilhelm Tell von Giacomo Rossini gesehen hat, zieht es ihn magisch an die Schauplätze des Tell-Epos. Ludwig ist ein schwärmerischer Typ und hat schon früher Tell verehrt. Als 15-Jähriger kaufte er von seinem knapp bemessenen Taschengeld eine Statuette von Wilhelm Tell. Drei Jahre später erstand er das Buch «Die Sage von Tell». Jetzt ist er 20-jährig und wandelt auf Tells Spuren. Von Luzern reist das gekrönte Haupt weiter nach Brunnen. Dort steigt er im einfachen «Weissen Rössli» ab, nahe bei der Schiffsanlegestelle. Mit dem Tell-Buch im Gepäck bereist Ludwig II. in den folgenden Tagen das Rütli, die Stauffacherkapelle, die hohle Gasse in Küssnacht, den Hauptort Schwyz, Seelisberg, Bürglen und gleich dreimal die Tellsplatte mit der damaligen Tellskapelle, die es ihm besonders angetan hat.
Trinkt Wasser aus den Rütli-Quellen
Ebenso Eindruck macht ihm das Rütli, wo angeblich der Rütlischwur beim Zusammenfluss dreier Wasserquellen stattgefunden haben soll. Ludwig II. kniet dort hin, um gleich aus allen drei Quellen zu trinken. Auch klettert er hoch nach Seelisberg, um einen Blick zu werfen «auf den tief unten liegenden Spiegel des wonnigen Sees und auf den Platz, an welchem ein heldenmüthiges, freiheitsliebendes Volk den Untergang der Tyrannei geschworen», wie er in einem etwas schwülstigen Brief an Richard Wagner beschreibt. Dass Ludwig zuhause in München eher Mühe hat mit liberalen Avancen aller Art, spaltet der König ab. Stattdessen malt er sich aus, wie er an diesem mythisch aufgeladenen Ort ein Schloss erbauen könnte. Der junge König äussert die Idee, dass er das Rütli kaufen will. Das wäre ein Ding gewesen: Wenn Ludwig II. das Rütli erworben und darauf eines seiner Märchenschlösser erbaut hätte! Sein Schloss Neuschwanstein ist mit mehr als 1,5 Millionen Touristen pro Jahr das am meisten besuchte Reiseziel ganz Deutschlands. Doch Ludwig ist ein paar Jahre zu spät: Das Rütli ist seit 1860 «unveräussliches Nationaleigentum» und der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft zur Verwaltung zugewiesen.
Eine weitere Vision hat Ludwig auch für die Tellsplatte, deren märchenhafte Geschichte ihm ebenso gefällt wie das Rütli. Für die Tellsplatte schwebt ihm der Bau einer riesenhaften Statue Tells vor. Diese plant er so überdimensioniert, dass unter dessen Beinen die grossen Dampfschiffe hätten durchfahren können. Doch auch diese Idee zerschlägt sich. Immerhin will sich der Bayernkönig an der Restaurierung der Gemälde in der Tellskapelle bei der Tellsplatte beteiligen.
Zudem versuchen Urner dem Bayernkönig das Wirtshaus Tell in Bürglen anzudrehen, sie nennen es das «Stammhaus von Wilhelm Tell», obwohl das keiner mit Sicherheit sagen kann. Sie verlangen dafür 100'000 Franken, was für damalige Verhältnisse komplett überteuert ist. Die Verhandlungen mit Wirt Franz Epp sind bereits weit gediehen, als das plötzlich trübe Oktoberwetter den Monarchen aus der Schweiz vertreibt. Der Kauf platzt, aber wenigstens hat Ludwig einige Landschaftsbilder des Urnerlandes im Gepäck, gemalt von Jost Anton Muheim.
Wäre gerne Urner Ehrenbürger
Bei seinen Kontakten mit Urnern und Schwyzern hatte der Monarch nebenbei erwähnt, dass ihm die Verleihung des Ehrenbürgerrechts «von Seite der Cantone Schwyz und Uri» sehr angenehm wäre. Doch die Urner Regierung zaudert. Da reichen am 5. März 1866 zwölf Urner eine Volksinitiative ein. Sie verlangen, Ludwig sei «in Anbetracht seiner wahrhaft edeln Gesinnung gegen die Urschweiz und seiner thatsächlich bewiesenen besondern Verehrung unsers Freiheitsbegründers Wilhelm Tell» das Ehrenbürgerrecht zu verleihen. Unterschrieben ist das Gesuch unter anderem von den Bürgler Wirten Franz Epp vom «Tell» und Anton Lauener vom «Adler», vom Politiker Anton Müller und vom Landschaftsmaler Jost Anton Muheim, der ihm seine Bilder verkauft hat – die Initianten sind also allesamt Profiteure Ludwigs. Das «Zuger Volksblatt» erachtet den Vorschlag als nicht sehr republikanisch: «Wir finden darin eine Buhlerei um Königsgunst, – vielleicht um schnöd Gold und Gaben!»
Doch bevor die Landsgemeinde das Begehren behandeln kann, schreitet Bundesrat Jakob Dubs ein: Ausländer dürften nur ein Ehrenbürgerrecht erhalten, wenn sie auf ihr Bürgerrecht verzichteten. Nun, ein Bayernkönig, der auf das Bürgerrecht seines Landes verzichtet, ist undenkbar, sodass die Urner das Volksbegehren nach der Intervention aus Bern zurückziehen. Nach zwölf Tagen in der Schweiz reist der Bayernkönig zurück nach Hohenschwangau. Die Reise hat ihm sehr gut gefallen: «Ich war entzückt.» Dafür gefiel ihm die Bevölkerung weniger, wie er in einem Brief festhält: «Leider ist das Volk daselbst nicht so ideal wie das wundervolle Land. – Es ist zwar fromm, bieder und arbeitsam, jedoch durchaus ohne hervorragende Begabung, ohne den mindesten Schwung des Geistes.» Offiziell hingegen log er, als der Bayernkönig der «Schwyzer Zeitung» diplomatisch schrieb: «Die Erinnerung an meinen Besuch der herrlichen Innenschweiz und das biedere, freie Volk, welches Gott segnen wolle, wird mir immer teuer sein. Ihr wohlgewogener Ludwig.»