Postkarte von St. Imier im Jahr 1903.
Schweizerisches Nationalmuseum

Anarchis­ten im Jura

In den 1870er-Jahren wurde das jurassische Dorf St. Imier zum Zentrum für Anarchisten. Der Russe Michail Bakunin gründete dort die Antiautoritäre Internationale.

Benedikt Meyer

Benedikt Meyer

Benedikt Meyer ist Historiker und Autor.

Die Industrialisierung war eine stürmische, schmutzige und ungerechte Zeit. Manche träumten vom Rückzug in die heile Bergwelt, andere von der Revolution. Einer der Letzteren war Michail Bakunin. Der Russe war in ganz Europa unterwegs, lebte mehrfach in der Schweiz und trat 1868 der Genfer Sektion der «Internationalen» bei. Geistige Führer dieser europäischen Arbeitervereinigung waren Karl Marx und Friedrich Engels – und mit denen überwarf sich Bakunin 1872 am Kongress von Den Haag.

Streitpunkt war nicht, ob es eine Revolution brauchte, sondern wie die Welt danach aussehen sollte. Für die Sozialisten brauchte es eine zentrale Führung. Bakunin aber war Anarchist – er wollte gar keine Führung. Schliesslich mussten Bakunin und seine Gefolgsleute die «Internationale» verlassen. Als Reaktion darauf reiste Bakunin in die Schweiz und gründete seine eigene Vereinigung, die «Antiautoritäre Internationale» – und zwar im Berner Jura, im Vallon de St. Imier.

St. Imier war ein Bauerndorf gewesen, bis es durch den Boom in der Uhrenindustrie und die Gründung von «Longines» zum Uhrmacherstädtchen wurde. Weshalb gerade die Uhrmacher zum Anarchismus neigten, ist Gegenstand ewiger Spekulation. Jedenfalls hatten sich die jurassischen Arbeiter bereits 1871 als «Fédération Jurassienne» von der «Internationalen» losgesagt. Hier war Bakunin willkommen und hier gründeten also die Uhrmacher und die Russen die anarchistische Bewegung.

Porträt von Michail Bakunin.
Wikimedia

Der jurassische Anarchismus hatte vor allem in den 1870er-Jahren Konjunktur, dann wandten sich die Uhrmacher wieder vermehrt sozialistischen Ideen zu. Auch die «Antiautoritäre Internationale» verschwand. Der Anarchismus allerdings verschwand nicht. In Genf blieb eine grössere Anarchistengemeinde aktiv und ihre Verfechter setzten zusehends auf Gewalt.

1885 wurde eine anonyme Drohung veröffentlicht, wonach das Bundeshaus in die Luft gesprengt werden sollte. Einige Jahre später detonierte in der Pariser Nationalversammlung eine Bombe und 1898 floss an der Genfer Seepromenade Blut: ein italienischer Anarchist erstach die österreichisch-ungarische Kaiserin Elisabeth. Eine Revolution löste der Terrorakt nicht aus. Diese kam erst 20 Jahre später ins Rollen – und tatsächlich war ihr wichtigster Akteur ein lange Zeit in der Schweiz wohnhafter Russe. Sein Name allerdings war nicht Michail Bakunin, sondern Wladimir Uljanow – besser bekannt als Lenin.

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