Geschirr wurde in der Schweiz oft von Hand bemalt und verziert, wie hier um 1940.
Geschirr wurde in der Schweiz oft von Hand bemalt und verziert, wie hier um 1940. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL

Langen­thal liegt in Tschechien

Bereits 3800 Jahre v. Chr. wurde in der heutigen Schweiz Geschirr hergestellt. Heute gibt es hierzulande keine industrielle Produktion mehr. Geblieben sind einige grosse Namen.

Bernhard Graf

Bernhard Graf

Bernhard Graf ist Kulturvermittler und wohnt seit vielen Jahren im Tessin.

Die Geschichte der Keramik, zu der im weiteren Sinn auch Kachelöfen, VorratsgefĂ€sse oder Dachziegel gehören, ist lang und immer auch eine Geschichte von Ă€sthetischen und technischen VerĂ€nderungen. Was beispielsweise das Formen eines Bechers  betrifft, so geschah dies anfĂ€nglich durch Übereinanderlegen von TonwĂŒlsten, die miteinander verstrichen und anschliessend gebrannt wurden. Die Töpferscheibe, wohl anfangs des dritten vorchristlichen Jahrtausends erfunden, revolutionierte die Arbeit, indem die Formgebung schneller vonstatten ging und das Resultat fortan jene GleichmĂ€ssigkeit aufwies, die uns heute so selbstverstĂ€ndlich ist, und die beispielsweise den Tellern ihre zeitlose, in sich geschlossene und unĂŒbertroffene Grundform gibt.
GefÀss aus der Bronzezeit in Form eines Vogels.
GefÀss aus der Bronzezeit in Form eines Vogels. Schweizerisches Nationalmuseum

Vom Unikat zum Massenprodukt

Ton lĂ€sst sich, vorausgesetzt, er wurde richtig prĂ€pariert, auch in eine Form pressen oder giessen, so dass die Verarbeitung noch schneller geschieht. Dank dieser Erkenntnis wurde letztlich die industrielle Grossproduktion möglich, die aus der einst als Unikat entstandenen handgedrehten SuppenschĂŒssel ein Massenprodukt machte. Dadurch wurde es zwar möglich, eine stĂ€ndig wachsende Bevölkerung auch mit den benötigten Tassen, Platten und KrĂŒgen zu versorgen, zu denen sich vor Zeiten auch Bartschalen, Tintengeschirre oder ApothekergefĂ€sse gesellten. Die verĂ€nderten AblĂ€ufe in Produktion und Handel und dem damit verbundenen Transport von Waren fĂŒhrten gegen das Ende des 20. Jahrhunderts aber dazu, dass in der Schweiz die Geschirrproduktion zum Erliegen kam. Heutzutage entsteht Gebrauchskeramik im kunsthandwerklichen Bereich – angerichtet und gegessen wird im Alltag mit importierter Massenware.

Vom BĂŒnzli­ge­schirr zur Trendkeramik

Jahrzehntelang war der Name Langenthal gleichsam Synonym fĂŒr Schweizer Geschirr. Etwas ĂŒber 80 Jahre war das richtig, sowohl in Bezug auf dessen Entwurf, als auch auf dessen Herstellung. Die 1906 gegrĂŒndete Porzellanfabrik Langenthal belieferte gastronomische Grossbetriebe sowie die Hotellerie. Dank eines guten Vertriebssystems  fand ihre Produktion zudem den Weg in einen Grossteil der Privathaushaltungen in allen Sprachregionen der Schweiz. Auch heute noch gibt es Langenthaler Geschirr zu kaufen, aber Langenthal liegt heute sozusagen in Tschechien, so wie das eine halbe Autostunde entfernte Ersigen in China liegt, denn auch der mit Ersigen verbundene Name Rössler steht nur noch fĂŒr Schweizer Design und nicht mehr auch fĂŒr eine Produktion in unserm Land. Das war anders, als in den 1960er-Jahren in HellgrĂŒn, Hellblau und Hellgelb FrĂŒhstĂŒcksgeschirr zu erschwinglichen Preisen gekauft werden konnte, das sich 25 Jahre spĂ€ter massenweise in BrockenhĂ€usern wiederfand. Nochmals eine Generation spĂ€ter zahlt eine eher jĂŒngere KĂ€uferschaft fĂŒr Rösslers scheinbar formloses Geschirr, dem lange Zeit auch etwas kleinbĂŒrgerlich BĂŒnzlihaftes anhaftete, bereitwillig einen beachtlichen Preis. Und die Ă€ltere Generation betrachtet den gelben Kaffeekrug, mit dem sie aufgewachsen ist, mit grösserer historischer Distanz neu und attestiert ihm, wenngleich hinter vorgehaltener Hand, Ă€sthetische QualitĂ€t.
Langenthaler SuppenschĂŒssel von 1930.
Langenthaler SuppenschĂŒssel von 1930. Schweizerisches Nationalmuseum
SchĂŒssel von Rössler aus den 1960er-Jahren.
SchĂŒssel von Rössler aus den 1960er-Jahren. Schweizerisches Nationalmuseum

Solothur­ner Fröhlich­keit auf dem Tisch

Dass gutes Geschirr gewissen funktionalen Kriterien entsprechen muss, liegt in der Natur der Sache: KaffeekannenausgĂŒsse sollten einen schönen Strahl bewirken, SalatschĂŒsseln sollten gut stehen und heisse Teetassen sollte man gefahrlos halten können. Das bereits in den 1890er-Jahren vom amerikanischen Architekten Louis Sullivan wiederholte Prinzip «form follows function», das schon um 1850 aufgestellt worden war, ist bis heute nicht widerlegt. Der Ă€sthetischen Gestaltung sind hingegen kaum Grenzen gesetzt und einer SchĂŒssel einen Dekor zu verpassen, war den Töpfern schon immer ein VergnĂŒgen. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein entstand Geschirr dort, wo der nötige Rohstoff vorhanden war; Ton ĂŒber weite Distanzen zu transportieren, hatte keinen Sinn. So hatte jede Region ihre eigene Keramikproduktion, und gelegentlich entstanden da und dort eigentliche Zentren. Dies war etwa im solothurnischen Bezirk Thal der Fall, wo Aedermannsdorf und Matzendorf noch heute an eine einst blĂŒhende Keramikproduktion erinnern. Seit dem spĂ€ten 18. Jahrhundert bis nach 1850 entstand dort Geschirr, das von lĂ€ndlicher Eleganz geprĂ€gt ist und mitunter den Eindruck vermittelt, das Leben sei eine immerwĂ€hrend leichte und fröhliche Angelegenheit.
SuppenschĂŒssel aus Matzendorf, um 1800.
SuppenschĂŒssel aus Matzendorf, um 1800. Schweizerisches Nationalmuseum
SuppenschĂŒssel von Kilchberg-Schooren, 1775.
Auch die Porzellanmanufaktur Kilchberg-Schooren bot SuppenschĂŒsseln an, wie dieses Exemplar von 1775. Schweizerisches Nationalmuseum

Geschirr und Ofenkacheln

Dass Töpfereien nicht nur Geschirr herstellten, zeigt das Beispiel der ab 1875 ĂŒber fĂŒnf Generationen aktiven Werkstatt der Familie Lötscher im bĂŒndnerischen St. Antönien. Hier entstanden auch Wasserleitungsrohre und hier stellte man nebst Ofenkacheln beispielsweise Tintengeschirre oder sogar Klistierspritzen her. Gerade die Kombination von Geschirr und Ofenkacheln ist nicht selten und sie findet sich in vielen Betrieben in jenen Gegenden der Schweiz, wo Kachelöfen verwendet wurden. Dass die verwendeten Materialien und die GrundsĂ€tze der Verarbeitung identisch sind, liegt auf der Hand. Und die Berufsbezeichnung Hafner (fĂŒr den Handwerker, der Ofenkacheln macht) benutzt einen Begriff aus der Produktepalette eines Töpfers. Töpferei und Hafnerei werden sprachlich oft nicht genau unterschieden. Die PrĂ€ttigauer Hafner Lötscher ĂŒbrigens lieferte den Haushaltungen SuppenschĂŒsseln, welche die Reihe anderer Beispiele auf interessante Weise ergĂ€nzen: Erhalten ist ein Exemplar von 1841, dessen Deckel keinen Knauf hat, sich aber umgedreht als Teller benĂŒtzen lĂ€sst.
Tintengeschirr aus Ton von Andreas Lötscher, 1813.
Tintengeschirr aus Ton von Andreas Lötscher, 1813. Schweizerisches Nationalmuseum
SchĂŒssel von Andreas Lötscher, 1808.
SchĂŒssel von Andreas Lötscher, 1808. Schweizerisches Nationalmuseum

Keramik­sti­le auf Wanderschaft

Wenn beim Blick auf das Alltagsgeschirr regionale Charakteristika auffallen, so bestehen andererseits oftmals stilistische Parallelen. Im Falle von Keramik aus der Mitte des 19. Jahrhunderts von Berneck im St. Galler Rheintal fĂ€llt eine offensichtliche NĂ€he zu derjenigen aus dem immerhin 254 Kilometer entfernten Heimberg auf. ErklĂ€rungsversuche fĂŒhrten zunĂ€chst auf die Spuren von aus dem Bernbiet in die Ostschweiz ausgewanderten Keramikmalerinnen, aber bei genauerem Hinsehen erwies es sich, dass es die formgebenden Töpfer selber waren, die – auf Wanderschaft – nebst ihren manuellen Fertigkeiten auch  Àsthetische Eigenheiten transportierten. Vom geografisch entgegengesetzten Ende der Schweiz sind Töpfereien aus der Gegend des Genfersees bis hinein in die unmittelbare Nachbarschaft der Stadt Genf bekannt. In Carouge existierte ab 1802 die Werkstatt von Abraham Baylon aus Nyon, deren Produkte einer stĂ€dtischen Mittelschicht sehr gefielen. Bis in die 1930er-Jahre existierte die Manufaktur, die Produktepalette wechselte aber mit der Zeit von Tafelgeschirr verschiedenster QualitĂ€t zu Keramik, welche etwa im Vereinsleben, bei privaten Festen oder fĂŒr militĂ€rische oder sportliche Auszeichnungen begehrt war.
Schale von Baylon, Anfang 19. Jahrhundert.
Schale von Baylon, Anfang 19. Jahrhundert. Schweizerisches Nationalmuseum
SuppenschĂŒssel aus Heimberg, um 1800.
SuppenschĂŒssel aus Heimberg, um 1800. Schweizerisches Nationalmuseum

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