Bobfahrt in St. Moritz, Ende des 19. Jahrhunderts.
Bobfahren fasziniert die Menschen seit über 130 Jahren. Schweizerisches Nationalmuseum

Vom Snobsport zum Bobsport

Es ist kein Zufall, wer zu einem bestimmten Zeitpunkt welchen Sport betrieben hat. Am Beispiel des Bobsports lässt sich dies besonders gut aufzeigen.

Simon Engel

Simon Engel

Simon Engel ist Historiker und bei Swiss Sports History für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig.

Annen Martin, Friedli Simon, Vogt Michael, Hefti Beat. Dies ist eine willkürliche Auswahl von Schweizer Bobpiloten aus dem letzten Jahrzehnt. Ihre Berufe: Käser, Koch, Polymechaniker und Zimmermann. Bevor sie mit dem Bobfahren begannen, waren sie aktive Turner, Leichtathleten oder Schwinger. Fast schon ein Klischee der ländlichen Schweiz. Die allerersten Bob-Asse, die um 1890 auftauchten, hiessen jedoch H.W. Topham, E. Cremers oder F.J. Watson. Über ihre Berufe ist nichts bekannt, aber gemein ist ihnen, dass sie Briten oder Amerikaner waren und als Touristen regelmässig in einem der Nobelhotels von St. Moritz abstiegen. Sie gehörten zur upper class. Unweigerlich kommt einem das Klischee des Snob in den Sinn. Vom reichen sportsman zum bodenständigen Büezer – der Bobsport machte seit seiner Erfindung also eine besondere Entwicklung durch. Die Anfänge des Bobfahrens sind eng mit dem Schweizer Wintertourismus verbunden: Der erste nachweisbare Bob wurde in der Saison 1888/89 von einem amerikanischen Kurgast in St. Moritz eingeführt. Er bestand aus zwei Schlitten amerikanischer Bauart, sogenannter Americas oder Toboggans, und war im Gegensatz zu den einheimischen Davoser-Schlitten nicht nur aus Holz, sondern zusätzlich aus Stahl gebaut.
Postkarte aus Nordamerika, 1908.
Die Schlitten der Touristen lehnten sich an die nordamerikanische Bauart der Toboggans an. ETH Bibliothek Zürich, Bildarchiv
Ein Jahr später liess sich ein britischer Banker einen reinen Stahl-Bob anfertigen. Aufgrund ihrer Beschaffenheit waren die Bobs und Toboggans den einheimischen Holzschlitten bezüglich Geschwindigkeit massiv überlegen: Metall auf Schnee und Eis funktioniert schlicht besser. Der Schlitten an sich war eine uralte Idee, die in einigen Gebieten auf der Welt auf verschiedenste Art und Weise genutzt wurde, sei es als Transportmittel oder als Volksvergnügen. Auch die wohlhabenden Touristen schlittelten in ihren Schweizer Winterferien zunächst mit den traditionellen Davosern aus Holz. Es war wohl das schichtspezifische Streben nach Exklusivität und Temporausch, das die reichen Briten und Amerikaner dazu bewog, sich einen teuren High-Tech-Bob bauen zu lassen. «Ein heisser Schlitten» war damals wirklich ein Schlitten und noch kein Maserati...
Schlitteln um 1890.
Schlitteln war schon vor Erfindung des Bobs eine Freizeitbeschäftigung aller Schichten. Schweizerisches Nationalmuseum

Was ist richtiges Eisbahn-Schlitteln?

Hohe Investitionen erforderte auch der Bau von passenden Schlittenbahnen, in denen man möglichst schnell runterfahren konnte. Vorbild waren hier wohl Eisrutschbahnen, wie es sie in Russland und Frankreich bereits gab. Diese Idee wollten nun findige Hoteliers und Touristen mit dem Schlitteln verbinden und für den Tourismus in St. Moritz nutzbar machen: Im Januar 1885 wurde auf Initiative des Outdoor amusements committee of the Kulm Hotel erstmals der Cresta Run gebaut. Die Rennbahn war also schon vier Jahre vor der Erfindung des Bobs da. Gefahren wurde darauf mit den erwähnten Toboggans. Alleine und liegend. Finanziert wurde die Eisbahn durch Spenden, die an Maskenbällen der noblen Gesellschaft gesammelt wurden. Mit dem Bau des Cresta Run wurde auch der St Moritz Tobogganing Club (SMTC) gegründet. Die Bobfahrerinnen und -fahrer, die in Gruppen auf den Schlitten sassen, schlossen sich zunächst dem SMTC als Untersektion an. Doch schon 1897 gingen sie ihren eigenen Weg und etablierten ihren eigenen Verein (und damit den ersten Bobclub der Welt), den St Moritz Bobsleigh Club (SMBC). 1904 folgte der Bau einer eigenen Bahn (dem heutigen Olympia Run), die ebenfalls in Zusammenarbeit mit einem Hotelier und dank Spenden errichtet werden konnte. Die Trennung von tobagganers und bobbers hatte zweierlei Gründe: Man war sich uneinig über die Benutzung des Cresta Run und darüber, was «richtiges» Eisbahn-Schlitteln sei.
Tobogganpilot auf dem obersten Teil des Cresta Run, 1902.
Tobogganpilot auf dem obersten Teil des Cresta Run, 1902. ETH Bibliothek Zürich, Bildarchiv

Sport, Partys und Prominente

Beiden Lagern war aber gemein, dass sie das Schlitteln so interpretierten, wie sie es von ihrer angelsächsischen Heimat und ihrem sozialen Milieu her kannten: Man verband ein Vergnügen mit sportlichem Wettbewerb und machte daraus ein gesellschaftliches Ereignis. Für die Bobteams gab es Preisgelder zu gewinnen und das Publikum konnte Wetten auf den Sieger abschliessen. Abgerundet wurde das ganze Drumherum mit exklusiven Partys in den Hotels. Diese Art von elitärem und vereinsmässigen Amateursport zog bald Nachahmer an, Adlige und Angehörige des Grossbürgertums aus ganz Europa reisten fortan nach St. Moritz oder sponserten den Bau von Eisbahnen in anderen Kurorten.
Der deutsche Kronprinz Friedrich Wilhelm mit seinem Bobsleigh «Roter Adler», 1911.
Der deutsche Kronprinz Wilhelm von Preussen mit seinem Bobsleigh «Roter Adler» 1911 in St. Moritz. Bildarchiv BASPO
Picknick auf dem See, Ende 19. Jahrhundert, St. Moritz.
Die gehobene Gesellschaft liess es sich an den Events gut gehen. Hier ein Picknick auf dem gefrorenen See in St. Moritz. Schweizerisches Nationalmuseum
Das «einfache Volk» schlittelte währenddessen auf den Dorfstrassen und Waldwegen weiter. Trotzdem gab es schon ziemlich früh einzelne Bobfahrer, die nicht aus der upper class stammten. In St. Moritz waren dies oft Einheimische, die mit den reichen Touristen geschäftlich verbunden waren: Handwerker, die sich als Schlitten- oder Bahnbauer betätigten oder Gewerbler wie Nino Bibbia, der sich im Tausch gegen eine Kiste Chianti seinen ersten High-Tech-Schlitten erwarb. Die Entwicklung vom Snobsport zum Bobsport setzte mit der Einführung von internationalen Wettbewerben Ende der 1920er-Jahren ein und akzentuierte sich nach 1950: Nicht mehr der Vergleich unter Seinesgleichen, sondern der Kampf zwischen Nationen wurde zum vorherrschenden Prinzip.
Bobrennen in St. Moritz, 1927. YouTube / British Pathé
Dorfschlitteln in St. Moritz um 1910.
Dorfschlitteln in St. Moritz um 1910. Bildarchiv BASPO

Waren die Frauen zu schnell?

Die nationalen Bob-Verbände unterstützten Tüftler im Kampf um das beste Material und die ideale Technik. In den 1950ern erkannte man, dass beim Start entscheidende Hundertstelsekunden herausgeholt werden können und begann kräftige Turner, Leichtathleten oder Handballer als Anschieber und Piloten zu rekrutieren. Der Bobsport, wie wir ihn heute kennen, war geboren. Der St. Moritzer Amateur-Bobbetrieb lief parallel weiter und besteht bis heute, wenn auch etwas weniger elitär und exklusiv. Die Exklusivität äusserte sich lange Zeit dadurch, dass Frauen vom Bobfahren ausgeschlossen wurden. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass bei der Gründung des SMBC 1897 Frauen dabei waren und im fünfköpfigen Vorstand zwei «Ladies» Vorschrift waren. Gemischte und reine Frauenteams waren bis in die 1920er-Jahre normal. Bobfahren war in seinen Anfängen eben nicht nur ein Sport, sondern auch eine Art Gesellschaftsspiel, wo junge Männer und Frauen ungeniert und abseits bürgerlicher Moralvorstellungen zusammenkommen konnten. Im verwandten Tobogganing stellte die Britin J.M. Baguley sogar zwei Bahnrekorde auf. Danach änderte sich das Klima, die schnellen Ladies wurden von den Männern wohl gefürchtet. Als Vorwand wurden analog zu anderen Sportarten medizinische und moralische Begründungen vorgeschoben: Aufgrund der hohen Geschwindigkeiten und starken Erschütterungen hätten die Frauen beim Bobfahren ein höheres Brustkrebsrisiko. Zudem sei das Zusammenkommen der Geschlechter im engen Bob eine Gefährdung für die Integrität der Frau.
Bachmann-Bob anlässlich des Rennens um den Preis von Montreux; Les Avants 1908.
Bachmann-Bob anlässlich des Rennens um den Preis von Montreux; Les Avants 1908. Beim 3er-Bob war eine Dame Vorschrift, beim 4er mussten zwei Frauen auf dem Schlitten sitzen. Bildarchiv BASPO
Dieses Denken wurde auch in den von Männern geführten Bobverbänden jahrzehntelang weitergegeben: So erlaubte der Schweizer Bobverband erst 1992 – 20 Jahre nach Einführung des Frauenstimmrechts – weibliche Teams und die erste Frauenbob-WM fand sogar erst im Jahr 2000 statt. Dort gewannen übrigens Françoise Burdet und Katharina Sutter die Bronzemedaille für die Schweiz. Durchbrochen hatten diese Männerbastion Pionierinnen wie Heidy Rost oder Barbara Muriset: Sie mussten erleben, dass es wirklich kein Zufall ist, wer welchen Sport ausführen darf.
Burdet und Sutter an einem Weltcuprennen der Saison 1998/99. YouTube

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Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit Swiss Sports History, dem Portal für Schweizer Sportgeschichte. Schulische Vermittlung sowie Informationen für Medien, Forschende und die breite Öffentlichkeit stehen im Zentrum des Portals. Mehr dazu auf sportshistory.ch

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