Die Insel Utopia in einem kolorierten Ausschnitt der Erstausgabe von 1516.
Die Insel Utopia in einem kolorierten Ausschnitt der Erstausgabe von 1516. medium.com

Die Suche nach Utopia

Die Suche nach Utopia und der idealen Gesellschaft, einer gerechteren Welt und einem glücklichen Leben ist so alt wie die Menschheit selbst. Jede Zeit bringt ihre eigenen Utopien hervor, der von Thomas Morus erschaffene Begriff stammt aus dem Jahr 1516.

Marina Amstad

Marina Amstad

Marina Amstad ist Historikerin und Ausstellungskuratorin beim Schweizerischen Nationalmuseum.

Definition Utopie
Der englische Humanist Thomas Morus war nicht der Erste, der im Jahr 1516 eine Abhandlung über eine ideale Gesellschaft verfasste. Aber er schrieb mit seinem Reisebericht über die Insel Utopia eine der wichtigsten politischen Schriften der Neuzeit und schuf die Literaturgattung der Utopie. In der Literatur sind Utopien eine Mischform von Erzählungen – die Beschreibung des utopischen Staates wird in einen narrativen Rahmen eingebettet – und philosophischer Diskussion. Das von Morus erschaffene Kunstwort Utopia, das wörtlich «Nicht-Ort» bedeutet, wird immer dort gebraucht, wo eine ideale Welt in möglichst radikaler Differenz zur Wirklichkeit beschrieben wird. Denn Utopien sind Gedankenexperimente, positive Gegenentwürfe und kritische Spiegelbilder der historischen Wirklichkeit. Utopien verraten somit stets mehr über die Zeit, in der sie entwickelt werden, als über den beschriebenen Inhalt der Utopie. In Morus’ Buch «Vom besten Zustand des Staates und der neuen Insel Utopia» berichtet ein Seemann, der fünf Jahre mit den Bewohnern Utopias verbracht haben soll, über die ideale Gesellschaft auf der Insel. Auf Utopia gibt es kein privates Eigentum und keinen Geldverkehr: Lebensmittel sind in Speichern gelagert und die Einwohner können abholen, was sie brauchen. Spitalpflege ist für alle kostenlos, man trägt Einheitskleidung, Schneider gibt es nicht. Morus liefert sogar ein utopisches Alphabet und ein Gedicht in dieser Kunstsprache. Dass Morus’ Phantasie aber ein Kind ihrer Zeit ist, zeigt sich in der Tatsache, dass die Sklaverei auch auf Utopia vorkommt und sogar als nötig betrachtet wird. Sklaven sind entweder Menschen anderer Länder oder Kriminelle, erbliche Sklaven gibt es nicht. Auch andere Eigenschaften Utopias scheinen aus der Sicht des 21. Jahrhunderts wenig «utopisch»: Um alle Einwohner bei bestem Benehmen zu halten, gibt es keine Privatsphäre, keine Wirtshäuser und private Versammlungen sind verboten.
Illustrierte Doppelseite aus Morus’ Buch «Vom besten Zustand des Staates und der neuen Insel Utopia», 1518.
Illustrierte Doppelseite aus Morus’ Buch «Vom besten Zustand des Staates und der neuen Insel Utopia», 1518. Wikimedia / Folger Shakespeare Library
Utopien können in der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft angesiedelt werden. Als es noch weisse Flecken auf der Landkarte gab, wurden Utopien vor allem auf fernen Inseln – wie etwa Utopia – verordnet. Der französische Autor Louis-Sébastien Mercier bricht mit dieser Tradition mit seinem 1771 erschienen Buch «Das Jahr 2440: ein Traum aller Träume» (Original: L’An 2440, rêve s’il en fut jamais). Der hier beschriebene optimale Staat liegt nicht mehr auf einer entlegenen Insel, sondern in der Zukunft Europas. Mit der Verlagerung der utopischen Visionen in die Zukunft wird aus dem «Nicht-Ort» der «Noch-Nicht-Ort» und Utopien als mögliche Zukunftsprognosen lesbar. Im 19. Jahrhundert erfreuen sich utopische Erzählungen grosser Beliebtheit, zum Beispiel Edward Bellamys «Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887» (Original: Looking Backward: 2000–1887) und Theodor Herztkas «Freiland» waren Ende des 19. Jahrhunderts Bestsellers. Zu dieser Zeit bildet sich aber bereits unter dem von John Stuart Mill geprägten Begriff Dystopia ein Gegengenre heraus. Die Dystopie entwirft keinen idealen Staat, sondern zeigt die schrecklichsten aller möglichen Welten. Bereits als negativ empfundene Erscheinungen der Gegenwart werden dabei in die schlimmste denkbare Form gesteigert.
Der Schweizer Künstler Walter Jonas konzipierte ab 1960 eine städtebauliche Utopie: die nach innen gewendete Stadt INTRAPOLIS – eine neue, menschenwürdige und ökologische Städteform. Walter Jonas, Intrapolis, um 1969.
Der Schweizer Künstler Walter Jonas konzipierte ab 1960 eine städtebauliche Utopie: die nach innen gewendete Stadt INTRAPOLIS – eine neue, menschenwürdige und ökologische Städteform. gta Archiv / ETH Zürich. Foto: Schweizerisches Nationalmuseum
Angesichts zweier Weltkriege und dem Scheitern der grossen politischen Utopien im 20. Jahrhundert machen Verheissungen eines «neuen Menschen» oder einer «besseren Zukunft» misstrauisch. Während die Utopien des 19. Jahrhunderts stets mit der unendlichen Idee des Fortschritts verknüpft waren, zeigte sich im 20. Jahrhundert die Ernüchterung. Zum Beispiel Aldous Huxleys «Schöne neue Welt» (1932) und George Orwells «1984» (1948) gehören bis heute zu den bekanntesten Dystopien. Beide Werke beschreiben stark überspitzte Zukunftsentwürfe von Gesellschaften, die von Unfreiheit und totaler Kontrolle geprägt sind. Das 20. Jahrhundert scheint die Epoche der Dystopien zu sein.
Der SRF Literaturclub diskutiert «1984» von George Orwell. SRF
Und das 21. Jahrhundert? In der Literatur- und Filmindustrie boomen dystopische Geschichten. Da klassische Utopien sich im perfekten und abgeschlossenen Zustand präsentieren, fehlt ihnen eine dramatische und somit filmtaugliche Handlung. In den Dystopien hingegen kämpft jeweils ein einzelner Held oder eine Rebellengruppe gegen ein menschenverachtendes System und die dystopische Ordnung. Im heutigen Sprachgebrauch wird das Adjektiv «utopisch» zudem oft zwangsläufig mit «unrealistisch» gleichgesetzt. Dass «utopisch» aber auch etwas Erstrebenswertes, Ideales und vielleicht Noch-Nicht-Existierendes sein könnte, wird dabei oft übersehen.

Eine Weltkarte, in der das Land Utopia nicht verzeich­net ist, verdient keinen Blick, denn sie lässt die eine Küste aus, wo die Mensch­heit ewig landen wird. Und wenn die Mensch­heit da angelangt ist, hält sie Umschau nach einem besseren Land und richtet ihre Segel dahin. Der Fortschritt ist die Verwirk­li­chung von Utopien.

Oscar Wilde (1854-1900)

Virus – Krise – Utopie

02.03.2021 27.06.2021 / Landesmuseum Zürich
Utopien gedeihen in Krisenzeiten besonders gut. Eine neue Ausstellung im Landesmuseum Zürich geht diesem Phänomen nach – historisch und aktuell. Die Corona-Pandemie zeigt unserer Welt, dass die gewohnte Normalität an ihre Grenzen stösst. Die Ausstellung beleuchtet aktuelle Zukunftsvisionen, setzt sie in einen historischen Kontext und verbindet sie mit den gegenwärtigen Ereignissen.

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