Es gab eine Zeit vor dem Handy, eine Zeit, in der Pressefotografen die Augen einer ganzen Nation waren. Viele ihrer Bilder sind heute in Vergessenheit geraten. Dazu gehören auch die Homestories, die amtierende sowie ehemalige Schweizer Bundesräte in ihrem Zuhause porträtierten.
Aaron Estermann hat Geschichte, Medienwissenschaft und Visuelle Kommunikation studiert und Kurator für historische Fotografie beim Schweizerischen Nationalmuseum.
Die Homestory ist ein Klassiker unter den Fotoreportagen. Sie interessiert sich für Bekannt- und Berühmtheiten in ihrem privaten Umfeld. Das Format kam mit der illustrierten Presse auf und erfreut sich bis heute grosser Beliebtheit. Angeregt wird des Lesenden Neugierde: Der Blick ins Wohnzimmer ist ja schon bei der Nachbarschaft interessant, erst recht also bei der Prominenz. So schickte die kleine Lausanner Pressebildagentur Mondial Press in den 1960er-Jahren ihre Fotografen zu einer Handvoll Bundesräte. Mit im Gepäck hatten sie Farbfilme. Das war keine Selbstverständlichkeit, denn farbige Fotografien kamen in den Printmedien erst vereinzelt zum Einsatz. Und wenn, dann schon eher in Werbeanzeigen. «Werbung» – das ist im Kontext von Homestories aber ganz allgemein ein gutes Stichwort: Dass die Magistraten den Fotografen Einlass gewährten, lag nämlich auch an ihren eigenen Interessen. Ein paar Fotos waren eine gute Gelegenheit, um bei der Leserschaft Sympathiepunkte zu sammeln – für sich als Person und darüber hinaus für die Politik.Beim Betrachten der Bilder fallen zunächst die Ähnlichkeiten auf. Die Bundesräte inszenieren sich im Kreise ihrer Familien als Ehemänner, Väter und Grossväter. Und obwohl die meisten Aufnahmen von zuhause, aus den bürgerlichen Wohnzimmern stammen, sind die Resultate teilweise nicht allzu weit von Atelieraufnahmen entfernt. Die Familienmitglieder, herausgeputzt und in Sonntagskleidung, posieren aufgereiht in zwei Reihen. Die Bundesräte erscheinen ausnahmslos in Anzug und Krawatte. Es ist das strikte Arrangement, das überwiegt; allzu privat und locker wird es nicht. Noch sind wir weit entfernt von einer Simonetta Sommaruga, die sich 2012 für die Schweizer Illustrierte barfuss gärtnernd ablichten liess. Oder von einem Christoph Blocher, der 2013 als Alt-Bundesrat in seiner Villa am Pool posierte – freilich im Bademantel!Zeigen sich die Bundesräte der 1960er-Jahre bei gestellten Aktivitäten, so sitzen sie fleissig am Bürotisch, über eine Landkarte oder ein Dokument sinnierend. Oder sie demonstrieren ihr kulturelles Kapital, indem sie vor einer Bibliothek sitzen oder zumindest ein Buch, ein Album oder eine Zeitschrift in Griffnähe haben. Auch hier lässt sich eine Kontinuität zu den klassischen Atelierposen herauslesen, die bis weit ins 19. Jahrhundert zurückreicht.
Roger Bonvin und Hans-Peter Tschudi an ihren Arbeitstischen.Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
Damals inszenierte man den Salon mit entsprechenden Kulissen und Requisiten vom Kaminsims bis zur Topfpflanze noch im Studio. Begibt sich der Fotograf wie bei den Homestories aber zu den Porträtierten und nicht mehr umgekehrt, so kommen Räume und Objekte ins Bildfeld, die trotz allen Genreregeln doch noch etwas über die persönlichen Vorlieben und Eigenheiten der Bundesratsfamilien zu berichten wissen.
Bücher und Kunstobjekte machen den Salon zum repräsentativen Raum: Friedrich Traugott und Helene Rosalie Wahlen posieren mit Büchern und einem Porträt, Hans Streuli betrachtet ein Glasgemälde als Erinnerung an seine Zeit als Zürcher Regierungsrat.Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
Auf den zweiten Blick gibt es also oftmals viel zu entdecken. Max Petitpierre posiert zwar alleine, aber über die Fotos auf dem marmornen Kaminsims sind auch seine Nächsten präsent. Durch das Vergrösserungsglas ist zu erkennen, dass er «Le Christ s’est arrêté à Eboli» liest, das Hauptwerk des antifaschistischen italienischen Politikers Carlo Levi. Dazu lehnt er sich geradezu lässig in die Sofaecke.
Max Petitpierre und Roger Bonvin sowie dessen Ehefrau auf blumenverzierten Polstermöbeln.Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
Einen Hauch von Nonchalance versprühen auch Roger Bonvin und seine Frau Charlotte Bonvin-Hilarides, die sich zum Apéro am Salontisch eingefunden haben. Hinter der hellblauen Vase blitzen rote Zigarettenpäckchen hervor: eine Produktplatzierung durch den Marlboro Man? Dafür ist die Inszenierung dann wohl doch zu wenig offensichtlich.
Und denkt man an die Aufregung rund um das Sofa eines Bundesratskandidaten im Jahr 2017 zurück, so mag auch ein Blick auf die Polstermöbel interessieren. Denn gleich bei drei ehemaligen Regierungsmitgliedern – bei Bonvin, Petitpierre und Chaudet – wird klar: Bundesräte scheinen nicht erst seit Ignazio Cassis ein Faible für blumenverzierte Sitzgelegenheiten zu haben!
Die Pressebildagentur ASL
Actualités Suisses Lausanne (ASL) wurde 1954 von Roland Schlaefli gegründet und galt bis zur Schliessung 1999 als wichtigste Westschweizer Pressebildagentur. 1973 übernahm Schlaefli zudem das Archiv der 1937 gegründeten Agentur Presse Diffusion Lausanne (PDL). Die Bestände der beiden Agenturen umfassen ungefähr sechs Millionen Bilder (Negative, Abzüge, Diapositive). Im breiten Themenspektrum lassen sich die Schwerpunkte Bundespolitik, Sport und Westschweiz ausmachen. Den Schritt ins digitale Zeitalter machte die Agentur nicht mehr mit. Seit 2007 befinden sich die Archive von ASL und PDL im Besitz des Schweizerischen Nationalmuseums. Der Blog präsentiert in einer losen Abfolge Bilder und Bildserien, die bei der Aufarbeitung der Bestände besonders aufgefallen sind.
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