Dürrenmatt mit einem seiner Gemälde, 1985.
Dürrenmatt mit einem seiner Gemälde, 1985. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL

Die Wahl des Odysseus

Wie Friedrich Dürrenmatt (1921–1990) mit seinen Theaterstücken, Romanen und Kurzgeschichten einer der bedeutendsten Schweizer Autoren des 20. Jahrhundert wurde.

Patrick Vallon

Patrick Vallon

Historiker, Redakteur bei Infolio éditions.

Wer hätte gedacht, dass der kleine Pfarrerssohn Fritz aus Konolfingen, einem bedächtigen Dorf am Tor zum Emmental, zu einem so bedeutenden Dramaturgen würde, obwohl er in der Schule – ausser im Zeichnen – nicht gerade brillierte? Sein im Diogenes Verlag erschienenes Werk umfasst ganze 37 Bände. Ein ungezähmtes, vielschichtiges, komplexes, aufwühlendes Werk, von dem der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki sagte: «Friedrich Dürrenmatt ist nicht unser Richter, aber vielleicht unser Gewissen, das uns nie in Ruhe lässt.» Manche sahen in ihm einen Clown, weil er sich als Clown gab. Aber in Wirklichkeit war er ein scharfsinniger Denker und einer der intelligentesten politischen Schriftsteller seiner Zeit. Sein angeborener Sinn fürs Groteske veranlasste ihn bisweilen, sich im Labyrinth seiner eigenen Gedanken zu verlieren. So war ihm die Anerkennung nicht immer vergönnt für seine 24 Theaterstücke – grösstenteils bissige «tragische Komödien» wie der berühmte Besuch der alten Dame, ein Stück, das seit 1956 überall auf der Welt immer wieder gespielt und adaptiert wird –, für seine Romane (zu denen das Juwel des schwarzen Humors Die Panne gehört), seine Essays und die «autobiografischen» Werke (die Anführungszeichen sind bei diesem Meister der indirekten Transposition unverzichtbar). Unabhängig von seinen Erfolgen und Misserfolgen machen der virtuose Umgang mit der Sprache und sein grosser Erfindungsreichtum Friedrich Dürrenmatt jedoch zu einem Genie der deutschsprachigen Literatur, wie es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur ganz wenige gab. Um eine Vorstellung von der Dürrenmattschen Welt zu erhalten, besucht man am besten das nach ihm benannte Zentrum in Neuenburg und bewundert sein malerisches Werk, das ebenso derb-komisch, exzessiv, nihilistisch und anklagend ist wie seine Schriften. Auch darin ist diese allgegenwärtige Obsession zu erkennen: Wie bleibt man rechtschaffen in einer Welt, die nichts als Chaos, Heuchelei und Machtkampf ist – und alles vor dem Hintergrund einer neu erfundenen Kosmologie, Religion und griechischen Mythologie (Meteoren, Türme von Babel, Minotauren…).
Friedrich Dürrenmatt, Labyrinth I: Der entwürdigte Minotaurus, 1962, Gouache auf Karton, 72 x 51 cm.
Friedrich Dürrenmatt, Labyrinth I: Der entwürdigte Minotaurus, 1962, Gouache auf Karton, 72 x 51 cm. Sammlung Centre Dürrenmatt Neuchâtel, © CDN/Schweizerische Eidgenossenschaft
Obwohl Dürrenmatt gegenüber der Schweiz sehr kritisch eingestellt war, liebte er sein Land und seine Leute. Aber hören wir ihm einfach zu: «Was sind wir Schweizer für Menschen? Vom Schicksal verschont zu werden ist weder Schande noch Ruhm, aber es ist ein Menetekel. Platon erzählt gegen Ende seiner Politeia, dass nach dem Tode die Seele eines jeden das Los zu einem neuen Leben wählen müsse: Zufällig aber habe die Seele des Odysseus das allerletzte Los erhalten und sei nun herangetreten, um zu wählen. Da sie aber in Erinnerung an ihre früheren Mühsale allen Ehrgeiz aufgegeben hatte, sei sie lange Zeit herumgegangen und habe das Leben eines zurückgezogenen, geruhsamen Mannes gesucht und gerade noch irgendwo eines gefunden, das die anderen unbeachtet hatten liegenlassen. Und als sie dies entdeckt hatte, habe sie gesagt, sie würde ebenso gehandelt haben, wenn sie das erste Los bekommen hätte, und habe es mit Freude gewählt. «Ich bin sicher, Odysseus wählte das Los, ein Schweizer zu sein.»
Die Rede von Friedrich Dürrenmatt anlässlich des Staatsbesuchs von Václav Havel 1990 der Schweiz. YouTube
Mit dieser abschliessenden Pirouette endet die letzte grosse Lobrede, die Friedrich Dürrenmatt am 22. November 1990 im zürcherischen Rüschlikon auf Václav Havel hielt, den ehemaligen Dissidenten und Dramaturgen, der im Dezember 1989 Präsident der Tschechoslowakei geworden war. Nach einem Rückblick auf den Prager Frühling überrascht Dürrenmatt darin seine Zuhörerschaft, indem er die von den Tschechoslowaken ohne Blutvergiessen neu erlangte Freiheit mit der schweizerischen Eidgenossenschaft vergleicht. Dabei definiert er sie als neutrales Gefängnis ihrer Neutralität, das keine Mauern braucht, «weil seine Gefangenen Wärter sind und sich selber bewachen, und weil die Wärter freie Menschen sind, machen sie auch unter sich und mit der ganzen Welt Geschäfte». Der Fichenskandal war eben aufgeflogen und diese noch nicht bewältigte Belastung für eine absurd ängstliche Schweiz kam Dürrenmatt wie gelegen. Die bei der Feier anwesenden Bundesräte fühlten sich brüskiert und weigerten sich, dem angesehenen Redner die Hand zu schütteln! Die Laudatio auf Václav Havel kann heute als politisches Testament von Friedrich Dürrenmatt gelesen werden. Kurz darauf, am 14. Dezember 1990, drei Wochen vor seinem 70. Geburtstag, verstarb er.
Porträt von Friedrich Dürrenmatt, Ende 1990.
Porträt von Friedrich Dürrenmatt, Ende 1990. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
Ein Schweizer Schriftsteller, der mehr als jeder andere den Nobelpreis verdient hätte – auch wenn er ihn höchstwahrscheinlich abgelehnt hätte, er, der folgende Worte in den Mund des Hauptdarstellers von Der Meteor legte: «Der Nobelpreis gab mir den Rest. Ein Schriftseller, den unsere heutige Gesellschaft an den Busen drückt, ist für alle Zeiten korrumpiert.»

Serie: 50 Schweizer Persönlichkeiten

Die Geschich­te einer Region oder eines Landes ist die Geschich­te der Menschen, die dort leben oder lebten. Diese Serie stellt 50 Persön­lich­kei­ten vor, die den Lauf der Schweizer Geschich­te geprägt haben. Einige sind besser bekannt, einige beinahe vergessen. Die Erzählun­gen stammen aus dem Buch «Quel est le salaud qui m’a poussé? Cent figures de l’histoire Suisse», heraus­ge­ge­ben 2016 von Frédéric Rossi und Christo­phe Vuilleu­mier im Verlag inFolio.

Weitere Beiträge