Ankunft des tschechoslowakischen Präsidenten Václav Havel im November 1990 in Bern.
Ankunft des tschechoslowakischen Präsidenten Václav Havel im November 1990 in Bern. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL

Dichter-Präsident im Schneegestöber

Als Václav Havel 1990 der Schweiz einen Staatsbesuch abstattete, war das eine kleine Sensation. Die diplomatischen Dokumente beleuchten das Ereignis aus verschiedenen Blickwinkeln.

Thomas Bürgisser

Thomas Bürgisser

Thomas Bürgisser ist Historiker bei der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis).

Das Bild täuscht. Er hält nicht dem Schweizer Bundespräsidenten den Schirm, nein, eine Rose hält er in der Hand. Er, Václav Havel, damals, am Morgen des 22. November 1990, auf dem Bundesplatz, lächelnd im Schneegestöber. Für Bern ist es der Besuch des Jahres. Kaum einer symbolisiert die Dynamik der Vorgänge im Osten Europas wie der frisch gekürte tschechoslowakische Dichter-Präsident, die Ikone der «Samtenen Revolution». Im Januar 1989 wurde der dissidente Schriftsteller von den herrschenden Kommunisten noch ins Gefängnis geworfen, weil er sich an einer illegalen Kundgebung in Erinnerung an Jan Palach beteiligt hat (dodis.ch/54688). Der junge Student hatte sich auf dem Prager Wenzelsplatz 20 Jahre zuvor, am 16. Januar 1969, selbst in Brand gesetzt – aus Protest gegen die Niederschlagung des «Prager Frühlings» durch sowjetische Panzer. Als Václav Havel für seinen friedlichen zivilen Ungehorsam vom 16. Januar 1989 weggesperrt wird, scheinen die tschechoslowakischen Apparatschiks die Zügel noch straffer als anderswo im Ostblock in ihren greisen Händen zu halten. Das sollte sich rasch ändern. Plötzlich blies der Wind in ganz Osteuropa aus einer anderen Richtung. In der DDR, in Polen, Ungarn und selbst in Bulgarien geriet die alte kommunistische Garde ins Wanken. Die UdSSR unter dem Reformer Michail Gorbatschow zeigte sich nicht mehr bereit, repressive Parteiregimes vor ihrer Bevölkerung zu schützen. Noch in diesem verrückten Jahr 1989 wird Havel aus der Haft entlassen und am 29. Dezember zum Präsidenten der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik gewählt. «Die Umwälzung ist total» berichtet der Schweizer Botschafter Serge Salvi aus Prag nach Bern.
Havel an einer Pressekonferenz 1990 in Bern.
Havel an einer Pressekonferenz 1990 in Bern. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL

Unkonven­tio­nel­ler Staatspräsident

Beeindruckt zeigte sich der Diplomat beim Antrittsbesuch auf dem Hradschin, der Prager Burg, von der unkonventionellen Persönlichkeit des Staatspräsidenten: «Gekleidet in schwarze Jeans, Hemd mit offenem Kragen und Jacke.» Zurückhaltend in seiner Art, trotz seiner Popularität in der Bevölkerung. Er sei «mehr Mensch der Feder als Tribun». Im Gespräch zeige er keine Gehässigkeiten gegen das bankrotte Regime der Kommunisten, entwerfe dagegen Ideen für die Zukunft. So würdigt Bundespräsident Arnold Koller im Gespräch mit Havel im Bundeshaus am 22. November auch dessen «hervorragende Rolle bei der Neugestaltung der politischen Landschaft Europas»: «Havel schwebt ideell ein konföderiertes Europa vor, welches die ethnische Vielfalt und den Reichtum der Kulturen, die es zusammensetzen, rechtsmässig garantiert», heisst es im Besuchsbericht des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), der per Wochentelex an die Dienststellen des Aussenministeriums im In- und Ausland ging. Nicht zu tragen kommen in diesem Wochentelex die helvetischen Verlustängste angesichts der visionären Kraft eines Ostmitteleuropas. Während dieses, von den Fesseln der kommunistischen Herrschaft befreit, «nach Europa zurückkehrt», sucht die Schweiz nach einer neuen Rolle und tut sich schwer mit den Verhandlungen um einen EWR-Vertrag.
Von links: René Felber, Václav Klaus, Václav Havel, Jiří Dienstbier, Arnold Koller, Otto Stich.
Von links: René Felber, Václav Klaus, Václav Havel, Jiří Dienstbier, Arnold Koller, Otto Stich. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL

Bitte um westliche Hilfe

Am Tag vor seinem Berner Besuch haben Havel und Koller beim Gipfeltreffen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Paris gemeinsam mit den anderen Staats- und Regierungschefs die «Charta für ein neues Europa» unterzeichnet. Symbolisch beendeten sie «das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas» und läuteten eine neue Epoche der «Menschenrechte, Demokratie und Rechtstaatlichkeit» auf dem Kontinent ein. Die Sonderrolle der Schweiz verlor mit dem Ende des Ost-West-Konflikts an Einfluss. Man müsse sich gefasst machen, die traditionelle Vermittlerrolle des Neutralen künftig vermehrt mit anderen mittleren und kleineren Staaten Europas – etwa mit der in den KSZE-Verhandlungen selbstbewusst auftretenden Tschechoslowakei – zu teilen, bilanzierte das EDA. In erster Linie kommt Havel am 22. November 1990 jedoch als Bittsteller nach Bern. Der wirtschaftliche und politische Reformprozess in Ost- und Mitteleuropa könne «nicht ohne Hilfe der westlichen Staaten erfolgen», sagt er zu Koller. Mit Genugtuung konstatiert Havel, dass die Schweiz als ausländischer Investitionspartner in der Tschechoslowakei an dritter Stelle liege. Begleitet wird Havel von Finanzminister Václav Klaus, dem nachmaligen Regierungschef und Staatspräsidenten der Tschechischen Republik sowie von Aussenminister Jiří Dienstbier, einem langjährigen Gefährten aus Dissidententagen. Mit der Unterzeichnung einer Absichtserklärung bekräftigen Dienstbier und sein Schweizer Konterpart, Bundesrat René Felber, den Willen, die bilateralen Kontakte auch in den Bereichen demokratische Institutionen, Kultur, Wissenschaft, Bildung und Umwelt zu intensivieren (dodis.ch/54814).
Kundgebung in Bern, Frühherbst 1968.
Nach dem Einmarsch der Sowjetunion in die Tschechoslowakei gingen tausende auf die Strasse, wie hier in Bern. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL

Erinne­rung an den Prager Frühling

Aussenminister Dienstbier bedankt sich im Gespräch mit Felber auch «für die wohlwollende Aufnahme, die seine Landsleute in der Vergangenheit in der Schweiz gefunden haben». Im Nachgang des «Prager Frühlings» 1968 hatte das Land 12’000 Flüchtlinge aufgenommen. Am Nachmittag des 22. Novembers trifft sich Havel mit «Vertretern der tschechischen und slowakischen Kolonie» im Kongresshaus in Zürich. Später geht es weiter ins nahe Rüschlikon, wo dem tschechoslowakischen Präsidenten der Gottlieb-Duttweiler-Preis verliehen wird. Die Laudatio hält Friedrich Dürrenmatt, der Grandseigneur der Schweizer Literatur. Er lobt Havels mutigen Einsatz für Freiheit und Demokratie. Und er hält in grossartiger Weise der versammelten Schweizer Politprominenz einen Zerrspiegel vor.
Ankunft tschechischer Flüchtlinge in Buchs, 1968.
Ankunft tschechischer Flüchtlinge in Buchs, 1968. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
Dem Vertreter des absurden Theaters Havel stellt der Schriftstellerkollege «die Schweiz als Groteske» gegenüber. «Als ein Gefängnis, als ein freilich ziemlich anderes, als es die Gefängnisse waren, in die Sie geworfen wurden, lieber Havel, als ein Gefängnis, wohinein sich die Schweizer geflüchtet haben. Weil alles ausserhalb des Gefängnisses übereinander herfiel und weil sie nur im Gefängnis sicher sind, nicht überfallen zu werden, fühlen sich die Schweizer frei, freier als alle andern Menschen, frei als Gefangene im Gefängnis ihrer Neutralität.» Unter dem Eindruck des Fichenskandals entwarf der alte Dürrenmatt das Bild einer Schweiz, deren Bewohnerinnen und Bewohner gleichzeitig Gefangene und Wärter ihrer selbst seien. Die Rede in Rüschlikon ist sein letztes Vermächtnis. Wenige Tage später verstirbt Friedrich Dürrenmatt.
Porträt von Friedrich Dürrenmatt, Ende 1990.
Porträt von Friedrich Dürrenmatt, Ende 1990. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
Das Treffen Havels mit tschechoslowakischen Emigranten, die Verleihung des Duttweiler-Preises sowie ein darauf folgender Kulturanlass im Schauspielhaus Zürich werden im Bericht für den EDA-Wochentelex nur kurz erwähnt. Der Berichterstatter, Abteilungschef Jenö Staehelin, verpasste nämlich den unerhörten Auftritt des alten Herrn in Rüschlikon. Der VW-Bus der Bundesverwaltung, der Staehelin von Bern an den Zürichsee hätte fahren sollen, hatte auf der Autobahn eine Panne und sass im dichten Schneetreiben fest.

Gemein­sa­me Recherche

Der vorliegende Text ist das Produkt einer Zusammenarbeit zwischen dem Schweizerischen Nationalmuseum (SNM) und der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis). Das SNM recherchiert im Archiv der Actualités Suisses Lausanne (ASL) Bilder zur schweizerischen Aussenpolitik und Dodis kontextualisiert diese Fotografien anhand des amtlichen Quellenmaterials. Die Akten zum Jahr 1990 werden im Januar 2021 auf der Internetdatenbank Dodis publiziert. Die im Text zitierten Dokumente sind bereits online verfügbar: dodis.ch/C1910. Unter diesem Link finden sich auch Dokumente der tschechoslowakischen Diplomatie zum Besuch Havels in der Schweiz, die das Aussenministerium der Tschechischen Republik Dodis zur Verfügung gestellt hat.

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