Das estnische Nationalmuseum liegt auf einem ehemaligen sowjetischen Militärflughafen.
Das estnische Nationalmuseum liegt auf einem ehemaligen sowjetischen Militärflughafen. Eesti Rahava Muuseum / Tanel Kindsigo

Eine Startbahn in die Zukunft

Der 2016 eröffnete Neubau des estnischen Nationalmuseums ist in jeder Hinsicht spektakulär. Das Haus verrät viel über die wechselvolle Geschichte und das heutige Selbstverständnis des kleinsten der baltischen Länder.

Hibou Pèlerin

Hibou Pèlerin

Seit vielen Jahren fliegt Hibou Pèlerin zu kulturhistorischen Ausstellungen. Für den Blog des Schweizerischen Nationalmuseums greift sich Pèlerin die eine oder andere Perle raus und stellt sie hier vor.

Wenn es einen Preis für den originellsten Standort eines Nationalmuseums gäbe, er müsste an die Esten gehen. Denn der 2016 eröffnete Neubau des estnischen Nationalmuseums, des «Eesti Rahva Muuseum», befindet sich in der ehemaligen Militär-Sperrzone von Tartu, einen Katzensprung von der heutigen Grenze Estlands zu Russland entfernt. Damit nicht genug: Das in seiner reduzierten Schlichtheit überaus elegant und ein wenig futuristisch anmutende Gebäude des japanischen Architekten Tsuyoshi Tane scheint sich aus der ehemaligen Startbahn des einstigen Militärflughafens Raadi herauszustülpen. Als wenn dieser plötzlich sein vorher verborgenes Innenleben offenbaren würde. Mehr Symbolik geht fast nicht. Die einstige Startbahn der verhassten Besatzer, zudem die grösste im Baltikum, ist nun der Ort, an dem das kleine baltische Land seine Geschichte und seinen historischen Neustart ab 1991 dokumentiert. Tartu ist allerdings nicht irgendeine Provinzstadt, sondern nach der Hauptstadt Tallinn (früher Reval) die zweitgrösste Stadt in dem Land mit seinen rund 1,3 Millionen Einwohnern. Mitten im Dreissigjährigen Krieg, als Estland unter schwedischer Herrschaft stand, gründete hier Schweden 1632 die bald berühmte Universität Tartu (Dorpat) und legte damit den Grundstein für viele Entwicklungen, die bis heute für das Land prägend sind. Die Universität Tartu bestand zwar nicht durchgehend, blickt aber auch auf Blütezeiten zurück und ist heute nicht nur international gut vernetzt, sondern noch dazu die einzige estnische Volluniversität.
Das vom japanischen Architekten Tsuyoshi Tane erbaute Nationalmuseum im Winter.
Das vom japanischen Architekten Tsuyoshi Tane erbaute Nationalmuseum im Winter. Eesti Rahava Muuseum / Arp Karm
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Blick auf den Eingang des estnischen Nationalmuseums in Tartu.
Blick auf den Eingang des estnischen Nationalmuseums in Tartu. Eesti Rahava Muuseum / Arp Karm
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Mit der Universität von Tartu schliesst sich der Kreis zur Startbahn. Denn von den Studierenden dieser Universität gingen ab 1987 zunehmend heftige Proteste gegen die Sowjetmacht aus. Die ersten Demonstrationen wurden von Archäologie-Studenten angeführt und richteten sich aus Gründen des Heimatschutzes gegen eine von den Sowjets geplante Phosphatmine, zu deren Ausbeutung sowjetrussische Arbeiter nach Tartu eingeflogen werden sollten. Der grössere Kontext waren die massiven Einschränkungen (wie etwa strenge Besuchsregelungen), die die Sowjets den Bewohnern der Stadt Tartu als Militärzone abverlangten. Die politische Grosswetterlage gegen Ende der Sowjetzeit befeuerte die Proteste. Sie gipfelten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 in der Unabhängigkeitserklärung Estlands. Das alles erfährt man schon zu Beginn des Parcours durchs estnische Nationalmuseum.
Der sowjetische Flughafen in Tartu um 1965.
Das Gelände um das Estnische Nationalmuseum heute.
Der sowjetische Flughafen in Tartu um 1965 und heute. U.S. Geological Survey / Google Earth
Dieser Parcours ist so originell wie der Museumsstandort. Er beginnt, nachdem man sich durch den leicht an eine riesige Staubsaugeröffnung erinnernden Eingangsbereich ins Innere der Startbahn bewegt hat, nämlich nicht mit Urbewohnern, finugrischen Jägern und Sammlern, Wikingern, Deutschordensrittern und der Hanse als prägenden Elementen des Baltikums. Stattdessen winkt ein Crashkurs zur sogenannten «Estonian Mafia». Darunter werden die zahlreichen technologischen Startups verstanden, die in Estland schon in den 1990er-Jahren (unter anderem mit schwedischer Hilfe) gegründet wurden. Hervorgehoben wird neben dem estnischen Satelliten ESTCube-1 der Kommunikationsservice Skype. Kein Wunder, belegt Estland heute mit der Entwicklung seines E-Gouvernements international einen Spitzenplatz. Im Alltag, etwa im öffentlichen Verkehr, ist die entsprechende digitale Infrastruktur omnipräsent. Mehr als nur ein amüsanter Einstieg in die Mentalität des Landes gerade für auswärtige Besucher ist in dieser Hinsicht ein in Endlosschlaufe laufender Videoclip einer Szene, die zum kollektiven Gedächtnis des Landes gehört. Sie zeigt, wie der erste Staatspräsident des neu gegründeten demokratischen Staats nach 1991, Lennart Meri, bei einer Pressekonferenz auf dem Flughafen von Tallinn 1997 sich vor laufender Kamera entrüstet zeigt angesichts eines Toilettendeckels, der neben der Toilettenschüssel an die Wand gelehnt ist. Ein unmissverständlicher Hinweis auf den dringenden Modernisierungsbedarf. Im Foyer des Museums steht übrigens auch ein Mercedes, den Meri als Geschenk erhielt. Als er nach einigen Jahren ersetzt werden musste, verzichtete Meri darauf: Er könne auch zu Fuss gehen und das Fahrrad benutzen. Lerne: Man in Estland ganz offenbar stolz auf eine unkonventionelle Haltung.
Der erste Estnische Staatspräsident Lennart Meri (1929-2006) im Jahr 1999.
Der erste Estnische Staatspräsident Lennart Meri (1929-2006) im Jahr 1999. Wikimedia / Jaan Künnap
Meris Modernisierungs-Botschaft ist vielerorts angekommen. So darf das estnische Nationalmuseum als Paradebeispiel für ein zeitgemässes, auf durchdachte Weise digital erweitertes Museum gelten. Als erstes bekommt man ein Eintrittsticket mit QR-Code ausgehändigt, das einem Zauberkräfte verleiht. Man muss es nur an die zahlreichen Screens, Info- und Videostelen im Museum halten, um auf die englische Version der knapp und instruktiv gehaltenen Erläuterungen zu den einzelnen Kapiteln der Dauerausstellung und den zugehörigen Exponaten umzuschalten. Ausserdem kann man die Erläuterungstexte, die man vielleicht lieber später lesen möchte, während des Rundgangs mit dem QR-Code sammeln und dann auf dem eigenen Smartphone oder Computer abrufen. Man staunt nicht schlecht, wenn man all diese Texte dann auch noch auf Russisch (das immerhin 66 Prozent der Esten sprechen oder verstehen), Finnisch, Lettisch, Deutsch und Französisch antrifft. Mäkeln kann man da höchstens, dass die schiere Menge der Erläuterungen, Begleittexte und Dokumente, so kurz und aufschlussreich sie gehalten sind, es einem nicht ganz einfach macht, einen Überblick zu gewinnen. Insbesondere, wenn die eigenen Kenntnisse der recht verzwickten Geschichte des Baltikums eher dürftig sind.
Architektur im Innern des Museums.
Architektur im Innern des Museums. Eesti Rahava Muuseum / Anu Ansu
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Architektur im Innern des Museums.
Architektur im Innern des Museums. Eesti Rahava Muuseum / Berta Vosman
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Architektur im Innern des Museums.
Architektur im Innern des Museums. Eesti Rahava Muuseum / Berta Vosman
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Immerhin bekommen wir Wesentliches mit. Zum Beispiel, dass es in Estland eben nicht nur diese fulminante Aufbruchsdynamik gibt, sondern auch ein schwieriges Erbe mit zahlreichen Erfahrungen von Flucht, Verfolgung, Unterdrückung und dem daraus resultierenden Nebeneinander verschiedener Ethnien. Zwar war das Baltikum aufgrund seiner Lage schon immer eine Interessens- und Einflusssphäre verschiedener Mächte gewesen. Aber erst im 20. Jahrhundert und vor allem während des Kalten Krieges spitzte sich diese Situation ideologisch zu. Zunächst bäumten sich die Esten Ende des 19. Jahrhunderts, parallel zu den Entwicklungen in Russland und angesteckt vom dortigen Revolutionsgeist, gegen die zwar kleine, aber wirtschaftlich und kulturell dominierende Schicht der überwiegend deutschbaltischen Gutsherren auf. Der Prozess führte 1919 zu einer Landreform, zur ersten Unabhängigkeit und Gründung der Republik Estland. Die darauffolgende Phase des schon Ende des 19. Jahrhunderts begonnenen industriellen Aufschwungs – beflügelt durch die ganzjährig eisfreien Ostseehäfen – wurde jäh beendet, als das gesamte Baltikum 1939 im Ribbentrop-Molotow-Pakt (auch Hitler-Stalin-Pakt genannt) den Sowjets zugesprochen und von ihnen besetzt worden war. Es begann ein schmerzhaftes Kapitel der Vertreibung und Verschleppung zehntausender, vor allem widerständiger Esten in sibirische Arbeits- und Todeslager. Das hat tiefe Wunden gerissen und prägt das Verhältnis zu Russland bis heute. Die Verfolgung der Juden hatte schon zuvor unter einer nationalkonservativen Regierung begonnen und intensivierte sich nun ebenfalls.
Blick in die Dauerausstellung «Begegnungen».
Blick in die Dauerausstellung «Begegnungen». Eesti Rahava Muuseum / Anu Ansu
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Blick in die Dauerausstellung «Begegnungen».
Blick in die Dauerausstellung «Begegnungen». Eesti Rahava Muuseum / Berta Vosman
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Blick in die Dauerausstellung «Begegnungen». Eesti Rahava Muuseum / Anu Ansu
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Blick in die Dauerausstellung «Begegnungen».
Blick in die Dauerausstellung «Begegnungen». Eesti Rahava Muuseum / Anu Ansu
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Blick in die Dauerausstellung «Begegnungen».
Blick in die Dauerausstellung «Begegnungen». Eesti Rahava Muuseum / Berta Vosman
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Nachdem wir uns schon ein gutes Stück in diese traurige(n) Geschichte(n) und den Museumsschlund haben hineinziehen lassen, der sich gegen Ende wieder auf die Weiten des jetzt zum Teil als Solarfarm genutzten einstigen Flughafenareals hin öffnet, lässt unsere Energie doch ein wenig nach. Bevor wir noch die letzten Funde aus estnischen Torfmooren erreichen, weichen wir daher von der Hauptroute ab und statten zur Abwechslung den thematisch ausgerichteten Nebenkabinetten eine Stippvisite ab. Eine gute Idee, denn sie erweisen sich als ausgesprochen attraktiv und vielfältig. Ein Höhepunkt sind die farbenprächtigen estnischen Trachten, wie überhaupt die ethnographische Sammlung als bedeutend gilt. Wer volkstümliche Streifenmuster in den verrücktesten Variationen liebt, ist hier richtig. Die Abteilung ist auch ein Eldorado bäuerlicher Schnitz- und Flechtkunst. Ganz besonders hat es uns der Raum zur estnischen oder genereller baltischen Küche angetan: Hier schauen wir zahlreichen Hausfrauen (und etwas weniger Hausmännern) beim Kochen über die Schultern. Schliesslich erläutern einige estnische Spitzenköche, wie die baltische Fusionsküche funktioniert (Zutaten sind die auf den Märkten üppig vorhandenen Beeren, Randen, Gurken, Buchweizen, Lachs und dem dunkelsten Roggenbrot der Welt). Selbst die Soljanka, die russische Resteverwertungssuppe, kann offenbar Michelin-Standard erreichen. Dass diese kulinarischen Versöhnungstaten vielleicht wichtiger und weniger trivial sind, als man zunächst meint, erschliesst sich spätestens in einem Raum mit kleinen, sorgfältig gestalteten Vitrinen. Hier regen persönliche Fotografien und Erinnerungsstücke von Esten dazu an, sich die dazugehörigen Lebensläufe anzuhören. Es ist bemerkenswert, dass bei diesen «oral histories» auch der russische Bevölkerungsteil vertreten ist, der immerhin rund 25 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Allerdings verläuft das Nebeneinander im estnischen Alltag nicht ganz so einfach wie im Museum. Dafür gibt es in den Familien zu viele schmerzhafte Erinnerungen.
Estnische Trachten.
Estnische Trachten. Eesti Rahava Muuseum / Anu Ansu
Doch was macht die estnische Geschichte aus Schweizer Perspektive überhaupt interessant? Neben ganz konkreten Gründen – Estland gehört als Mitglied der EU seit 2004 beispielsweise zu den Empfängerländern der EU-Kohäsionsmilliarden und ist ein zunehmend wichtiger Handelspartner – gibt es prägnante historische Anknüpfungspunkte. So wurde die erste estnische Republik von 1919 aufgrund der Einführung der Demokratie schon 1921 und damit recht früh von der Schweiz anerkannt. Auch nach der Befreiung von der sowjetischen Besatzungsmacht 1991 unterstützte die Schweiz Estland. Neben den Sympathien für eine kleine Nation, die auf dem Weg zur Demokratie steile Hürden überwinden musste, gibt es auch gute geopolitische Gründe. An einer uralten Reibungszone zwischen Ost und West gelegen, haben sich Estlands Bürger mehrfach und unter beträchtlichen Opfern zu den westeuropäischen Idealen von Freiheit und Demokratie bekannt. Vor diesem Hintergrund versteht man auch besser, warum Estland noch im 21. Jahrhundert ein solches Nationalmuseum gegründet hat (dessen Wurzeln bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen): Es ist dient nicht in erster Linie als Hort für museale Staubfänger, sondern als konzeptuell durchdachte Plattform der Verständigung für seine Bürgerinnen und Bürger und für alle, die sich für dieses kleine Land mit seiner bewegten Geschichte interessieren.

Estnisches National­mu­se­um Tartu

Das Museum bietet Dauer- und Wechselausstellungen (auch in Englisch). Erreichbar ist Tartu von Tallin in knapp zwei Stunden bequem per Zug. Wer die Reise nach Estland scheut, kann einige der Ausstellungen auch virtuell besuchen.  

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