
Eine Startbahn in die Zukunft
Der 2016 eröffnete Neubau des estnischen Nationalmuseums ist in jeder Hinsicht spektakulär. Das Haus verrät viel über die wechselvolle Geschichte und das heutige Selbstverständnis des kleinsten der baltischen Länder.
Mehr Symbolik geht fast nicht. Die einstige Startbahn der verhassten Besatzer, zudem die grösste im Baltikum, ist nun der Ort, an dem das kleine baltische Land seine Geschichte und seinen historischen Neustart ab 1991 dokumentiert.
Tartu ist allerdings nicht irgendeine Provinzstadt, sondern nach der Hauptstadt Tallinn (früher Reval) die zweitgrösste Stadt in dem Land mit seinen rund 1,3 Millionen Einwohnern. Mitten im Dreissigjährigen Krieg, als Estland unter schwedischer Herrschaft stand, gründete hier Schweden 1632 die bald berühmte Universität Tartu (Dorpat) und legte damit den Grundstein für viele Entwicklungen, die bis heute für das Land prägend sind. Die Universität Tartu bestand zwar nicht durchgehend, blickt aber auch auf Blütezeiten zurück und ist heute nicht nur international gut vernetzt, sondern noch dazu die einzige estnische Volluniversität.

Mehr als nur ein amüsanter Einstieg in die Mentalität des Landes gerade für auswärtige Besucher ist in dieser Hinsicht ein in Endlosschlaufe laufender Videoclip einer Szene, die zum kollektiven Gedächtnis des Landes gehört. Sie zeigt, wie der erste Staatspräsident des neu gegründeten demokratischen Staats nach 1991, Lennart Meri, bei einer Pressekonferenz auf dem Flughafen von Tallinn 1997 sich vor laufender Kamera entrüstet zeigt angesichts eines Toilettendeckels, der neben der Toilettenschüssel an die Wand gelehnt ist. Ein unmissverständlicher Hinweis auf den dringenden Modernisierungsbedarf. Im Foyer des Museums steht übrigens auch ein Mercedes, den Meri als Geschenk erhielt. Als er nach einigen Jahren ersetzt werden musste, verzichtete Meri darauf: Er könne auch zu Fuss gehen und das Fahrrad benutzen. Lerne: Man in Estland ganz offenbar stolz auf eine unkonventionelle Haltung.
Zunächst bäumten sich die Esten Ende des 19. Jahrhunderts, parallel zu den Entwicklungen in Russland und angesteckt vom dortigen Revolutionsgeist, gegen die zwar kleine, aber wirtschaftlich und kulturell dominierende Schicht der überwiegend deutschbaltischen Gutsherren auf. Der Prozess führte 1919 zu einer Landreform, zur ersten Unabhängigkeit und Gründung der Republik Estland. Die darauffolgende Phase des schon Ende des 19. Jahrhunderts begonnenen industriellen Aufschwungs – beflügelt durch die ganzjährig eisfreien Ostseehäfen – wurde jäh beendet, als das gesamte Baltikum 1939 im Ribbentrop-Molotow-Pakt (auch Hitler-Stalin-Pakt genannt) den Sowjets zugesprochen und von ihnen besetzt worden war. Es begann ein schmerzhaftes Kapitel der Vertreibung und Verschleppung zehntausender, vor allem widerständiger Esten in sibirische Arbeits- und Todeslager. Das hat tiefe Wunden gerissen und prägt das Verhältnis zu Russland bis heute. Die Verfolgung der Juden hatte schon zuvor unter einer nationalkonservativen Regierung begonnen und intensivierte sich nun ebenfalls.
Bevor wir noch die letzten Funde aus estnischen Torfmooren erreichen, weichen wir daher von der Hauptroute ab und statten zur Abwechslung den thematisch ausgerichteten Nebenkabinetten eine Stippvisite ab. Eine gute Idee, denn sie erweisen sich als ausgesprochen attraktiv und vielfältig. Ein Höhepunkt sind die farbenprächtigen estnischen Trachten, wie überhaupt die ethnographische Sammlung als bedeutend gilt. Wer volkstümliche Streifenmuster in den verrücktesten Variationen liebt, ist hier richtig. Die Abteilung ist auch ein Eldorado bäuerlicher Schnitz- und Flechtkunst. Ganz besonders hat es uns der Raum zur estnischen oder genereller baltischen Küche angetan: Hier schauen wir zahlreichen Hausfrauen (und etwas weniger Hausmännern) beim Kochen über die Schultern. Schliesslich erläutern einige estnische Spitzenköche, wie die baltische Fusionsküche funktioniert (Zutaten sind die auf den Märkten üppig vorhandenen Beeren, Randen, Gurken, Buchweizen, Lachs und dem dunkelsten Roggenbrot der Welt). Selbst die Soljanka, die russische Resteverwertungssuppe, kann offenbar Michelin-Standard erreichen.
Dass diese kulinarischen Versöhnungstaten vielleicht wichtiger und weniger trivial sind, als man zunächst meint, erschliesst sich spätestens in einem Raum mit kleinen, sorgfältig gestalteten Vitrinen. Hier regen persönliche Fotografien und Erinnerungsstücke von Esten dazu an, sich die dazugehörigen Lebensläufe anzuhören. Es ist bemerkenswert, dass bei diesen «oral histories» auch der russische Bevölkerungsteil vertreten ist, der immerhin rund 25 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Allerdings verläuft das Nebeneinander im estnischen Alltag nicht ganz so einfach wie im Museum. Dafür gibt es in den Familien zu viele schmerzhafte Erinnerungen.

Estnisches Nationalmuseum Tartu
Das Museum bietet Dauer- und Wechselausstellungen (auch in Englisch). Erreichbar ist Tartu von Tallin in knapp zwei Stunden bequem per Zug.
Wer die Reise nach Estland scheut, kann einige der Ausstellungen auch virtuell besuchen.
Wer die Reise nach Estland scheut, kann einige der Ausstellungen auch virtuell besuchen.












