Der litauische Vizepräsident, Bronislavas Kuzmickas, anlässlich seiner Rede am Europatag im Botta-Zelt.
Der litauische Vizepräsident, Bronislavas Kuzmickas, anlässlich seiner Rede am Europatag im Botta-Zelt. Dodis

Zwischen Aufbruch und Rückzug

Am 17. November 1991 schaute die Schweiz auf ein bewegtes Jahr zurück. Das «Schlussbouquet» der 700-Jahrfeier der Eidgenossenschaft in Basel stand im Zeichen des Aufbruchs Richtung Europa – genauso wie das ganze Jubiläumsjahr, das der internationalen Dimension der Schweiz viel Platz einräumte.

Annina Clavadetscher

Annina Clavadetscher

Annina Clavadetscher ist Historikerin bei der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis).

«Wir haben es geschafft: Die Schweiz hat ihre 700 Jahre gefeiert und dabei gar keine so schlechte Figur gemacht – jedenfalls eine bessere, als es eine Zeit lang aussah und als manche glaubten, erwarten zu müssen», resümierte die Hauptausgabe der Tagesschau am Abend des Schlussakts der 700-Jahrfeier der Eidgenossenschaft. Tatsächlich hatte das Jubiläumsfest mit einigen Startschwierigkeiten zu kämpfen: Das Innerschweizer Stimmvolk schickte das gigantische Jubiläumsprojekt «CH91», das mit einer Landesausstellung am Vierwaldstättersee hätte zelebriert werden sollen, 1987 an der Urne bachab. Dann schlossen sich Kulturschaffende aus der ganzen Schweiz – empört über die 1989 aufgedeckte Fichenaffäre – zum Boykott der Feier zusammen.
Tagesschau-Beitrag vom 17. November 1991. SRF
Am 17. November aber konnte eine positive Bilanz gezogen werden: «Nein, die Schweizerinnen und Schweizer haben ihren Sinn fürs Feiern nicht verloren, genauso wenig wie ihren Sinn für das Gedenken der Vergangenheit und ihre Bereitschaft, über sich selbst, ihr Land und ihre Zukunft nachzudenken», resümierte Bundesrat René Felber an der Schlussfeier in Basel. Bereits im Vorfeld war klar, dass das Jubiläum mit seinen unzähligen dezentralen Feiern nicht zur helvetischen Nabelschau verkommen, sondern ein zukunftsgerichtetes und weltoffenes Bild der Schweiz vermitteln sollte. Die Feier unter der Gesamtleitung des Delegierten des Bundesrats, Marco Solari, war als Trilogie konzipiert: Nebst dem «Fest der Eidgenossenschaft» rund um den 1. August in den «Urkantonen» und dem «Fest der vier Kulturen […] als Brückenschlag der Sprach- und Kulturregionen» sollte das «Solidaritätsfest» verdeutlichen, dass sich die «Schweiz als Teil der Völkergemeinschaft versteht und auch gewillt ist, zur Gestaltung dieser weltweiten Gemeinschaft beizutragen» (dodis.ch/57786). Dass der abschliessende Festakt in der Grenzstadt Basel über die Bühne ging, stand sinnbildlich dafür und erlaubte die Öffnung des Blicks ins nahe Ausland und nach Europa.
Europatag in Sils, September 1991.
Rund 1200 geladene Gäste aus dem In- und Ausland trafen sich am 7.9.1991 zum Europatag in Sils im Engadin. Reden und Feierlichkeiten fanden im Botta-Zelt (im Hintergrund) statt. Dodis
Dem Blick in die europäische Nachbarschaft kam auf Wunsch des Bundesrats im Jubiläumsjahr ein besonderes Gewicht zu. Dies ist wenig erstaunlich, schliesslich befanden sich 1991 die Verhandlungen mit der Europäischen Gemeinschaft (EG) rund um den Vertrag des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) in der entscheidenden Phase. Die sogenannten «Europäischen Begegnungen» sollten denn auch Gelegenheit bieten, zur Schaffung des neuen Europas beizutragen. Insbesondere sollte die junge Generation in den Dialog miteinbezogen werden: Im Rahmen der Begegnungswoche «Spiert Aviert» (Rätoromanisch für «Offener Geist») tauschten sich über 400 Jugendliche aus ganz Europa über die Zukunft des Kontinents aus. Eine Studentin sorgte dafür, dass die Gedanken der Jugend auch am «Europatag», dem offiziellen Festakt und Höhepunkt der «Europäischen Begegnungen», Gehör fanden.
Die erste Eidgenössische Jugendsession fand im Rahmen der Jubiläumsfeier im September 1991 statt.
Die erste Eidgenössische Jugendsession fand im Rahmen der Jubiläumsfeier im September 1991 statt. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
Als «Treuzeugnis der Schweiz» an Europa verstanden, entwickelte sich der «Europatag» am 7. September in Sils im Engadin zu einem der zentralen Anlässe der gesamten 700-Jahrfeier – und das, obschon die politische Spitzenvertretung für viele Länder fehlte. Da zahlreiche von ihnen bereits für den «Tag der internationalen Beziehungen» im Juni in die Schweiz gereist waren, bot der «Europatag» vor allem Gelegenheit für Gespräche mit Europapolitikerinnen und Exponenten der Wissenschaft: Mit Elisabeth Guigou, Mario Monti und Carl Friedrich von Weizsäcker sprachen drei namhafte Persönlichkeiten über ihre Zukunftsvision für Europa und Bundespräsident Flavio Cotti offenbarte sich als überzeugter Europäer. Der Auftritt des litauischen Vizepräsidenten, Bronislavas Kuzmickas, stand schliesslich sinnbildlich für die neuen Verbindungen in den Osten des Kontinents. Damit liess sich der «Europatag» als schöner Erfolg verbuchen, der lediglich durch die «Stauungen auf dem Weg ins Festzelt» – verursacht durch den zahlreich erschienenen europäischen Adel – getrübt werden konnte (dodis.ch/57683).
Die Bundesräte Adolf Ogi, Flavio Cotti und René Felber beim entspannten Talk mit Prinz Charles.
Die Bundesräte Adolf Ogi, Flavio Cotti und René Felber beim entspannten Talk mit Prinz Charles. Dodis
Gleichzeitig bot die 700-Jahrfeier Gelegenheiten, über die Rolle der Schweiz in der Welt generell nachzudenken und das gegenseitige Verständnis mit aussereuropäischen Kulturen zu fördern: Das setzten sich die Veranstalter des «Internationalen Fests» in Graubünden zum Ziel, die direkt mit der Kritik des Kulturboykotts konfrontiert wurden. Mit der von Hilfswerken lancierten Petition «Entwicklung braucht Entschuldung» wurde ausserdem ein Zeichen über das Jubiläumsjahr hinaus gesetzt: Symbolträchtige 700 Millionen Franken sollten in den folgenden Jahren sowohl für Entschuldungsmassnahmen zugunsten ärmerer Entwicklungsländer als auch für Umweltprogramme mit globaler Bedeutung eingesetzt werden, um «verstärkte und erneute Solidarität auch gegenüber schwächeren Gliedern der internationalen Gemeinschaft zu beweisen» (dodis.ch/56084) – Anliegen, für die sich auch die im Rahmen der 700-Jahrfeier abgehaltene erste eidgenössische Jugendsession in einer Petition stark machte. Eine umfangreiche Informationskampagne sollte schliesslich dafür sorgen, dass falsche Klischeevorstellungen ausgeräumt und die Schweiz weltweit als dynamisch, offen und selbstkritisch wahrgenommen wurde.
Übergabe der Hilfswerk-Petition «Entwicklung braucht Entschuldung» vor dem Bundeshaus.
Übergabe der Hilfswerk-Petition «Entwicklung braucht Entschuldung» vor dem Bundeshaus. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
Selbstreflexion und Solidarität – das waren denn auch die Themen, die Aussenminister Felber an seiner Festrede in Basel wieder aufnahm. Nach den europapolitischen Entscheiden des Bundesrats nur wenige Tage vorher – der Gutheissung des EWR-Vertrags und des EG-Beitritts als strategisches Ziel – erstaunte es wenig, dass Felber insbesondere zu Solidarität gegenüber Europa aufrief. Den Bogen zum «Fest der Eidgenossenschaft» schlagend, gab er sich überzeugt, dass die Erneuerung der Rütlischwurs zugunsten von Demokratie und Solidarität mit den europäischen Nachbarn erfolgen müsse: Die Integration in Europa sei für die Schweiz des ausgehenden 20. Jahrhunderts die Gelegenheit, «sich ihrer Ahnen von 1291 würdig zu erweisen».

Gemein­sa­me Recherche

Der vorliegende Text ist das Produkt einer Zusammenarbeit zwischen dem Schweizerischen Nationalmuseum (SNM) und der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis). Das SNM recherchiert im Archiv der Actualités Suisses Lausanne (ASL) Bilder zur schweizerischen Aussenpolitik und Dodis kontextualisiert diese Fotografien anhand des amtlichen Quellenmaterials. Die Akten zum Jahr 1991 werden im Januar 2022 auf der Internetdatenbank Dodis publiziert. Die im Text zitierten Dokumente sind bereits online verfügbar: dodis.ch/C2168.

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