
Mord auf dem Säntis
Im Februar 1922 fielen der Säntis-Wetterwart und seine Frau einem Verbrechen zum Opfer. Neue Erkenntnisse bringen Licht ins Dunkel dieses Beziehungsdeliktes, das weitherum Bestürzung auslöste.

Die Tür zu dem Raum ist abgeschlossen, die drei Männer müssen sie aufbrechen. Ihnen bietet sich ein schreckliches Bild: Neben dem Stehpult am Fenster liegt der leblose Körper von Magdalena Haas in einer Lache von Blut. Das Zimmer ist völlig verwüstet. Böses ahnend, machen sich die drei auf die Suche nach Heinrich. Sie steigen hinauf ins zweite Obergeschoss und durchschreiten von dort den Verbindungstunnel zum Gipfelplateau. Dort finden sie die auf dem Bauch liegende Leiche von Heinrich.


Das Durcheinander im Büro rührt nach den Erkenntnissen der Polizei nicht von einem Kampf her, sondern ist von «Sturm» angerichtet worden. Der Hund muss fast durchgedreht sein, als er vier Tage lang ohne Wasser und Futter in dem Zimmer eingeschlossen war. Auch Magdalena ist aus einigen Metern Abstand erschossen worden. Eine erste Kugel hat sie verfehlt und ist in die Wand eingeschlagen, eine zweite hat sie tödlich in die Brust getroffen.
Als verwendeter Waffentyp wird aufgrund der Projektile eine Pistole der Marke Browning identifiziert. Es sind Dum-dum-Geschosse verwendet worden, die im Körper wie eine explodierende Granate wirken und im Überlebensfall das Leiden vergrössern. Zu solchen kann man nur auf illegalem Wege gelangen oder indem man legal erworbene Munition durch Manipulation mit einer Feile manipuliert. Der Abreisskalender zeigt den 21. Februar an und bestätigt damit, dass dies der Tag des Doppelmordes war.


Opfer und Täter kennen sich
Am 26. Februar wird der Doppelmörder zur Fahndung ausgeschrieben, mit Foto und Beschreibung steckbrieflich gesucht. In den vier Tagen bis zum Auffinden der Leichen hätte Kreuzpointner genügend Zeit gehabt, das Weite zu suchen. Doch er bleibt in der Region und wird diverse Male gesehen, wie sich später zeigt. Da zu jenem Zeitpunkt noch niemand von seinem Verbrechen weiss, meldet ihn niemand der Polizei. Magdalenas Schmuck versetzt er, und die Tatwaffe übergibt er unter mysteriösen Umständen einer Drittperson, welche diese bei der Polizei abliefert.
Zum Sterben schön…
Die Vorgeschichte dieser Tragödie beginnt im Jahr 1919, in dem der vormalige Wetterwart, der mit seiner Frau 30 Jahre auf dem Berg gelebt hat, in den Ruhestand tritt. Seit 1846 gibt es auf dem Säntis ein einfaches Gasthaus – vom ersten Besitzer ironisch «Grand Hotel Thörig» genannt –, in dem ein Zimmer ab 1882 als Wetterstation genutzt wird. Ab 1887 steht dem Wetterwart das eigens dafür erstellte Steingebäude zur Verfügung.
Über 50 Bewerber soll es für die aussergewöhnliche Stelle gegeben haben. Obenaus schwingt am Ende Heinrich Haas, ein gebürtiger Appenzeller, der ein begeisterter Berggänger ist. Er hat eigentlich Bäcker gelernt, arbeitet zu jener Zeit aber als Kondukteur in Zürich. Der 33-Jährige wird genommen und hat damit seinen Traumjob gefunden. Denn bereits als er den Säntis das erste Mal bestiegen hat, hat er geschwärmt: «Dort oben ist es zum Sterben schön.»

Bertha hat ihre Stiefmutter später als bescheiden, gutherzig und ordnungsliebend beschrieben, ihren Vater als Helfer, Ratgeber und Menschenfreund, der stets munter und liebenswürdig gewesen sei. Das Paar habe eine glückliche Ehe und ein weitgehend konfliktfreies Leben geführt. Heinrich war ein begeisterter Hobbyfotograf und hat das Leben auf dem Berg reichlich mit Bildern dokumentiert. Auch Glasplatten-Stereoaufnahmen sind darunter.

Als leidenschaftlicher Kletterer und Skifahrer geht er in seiner Freizeit oft in die Berge. Im SAC Säntis, dessen Mitglieder vorwiegend aus der Oberschicht stammen, kommt der sportliche Mann aus der Unterschicht gut an. Er kann offenbar sehr einnehmend sein. Es gibt allerdings auch weniger schmeichelhafte Charakterisierungen. So beschreibt ihn ein Bergkamerad als ausgesprochen «ichbezogen und gefühlskalt». Einmal meint er zum Beispiel, dass man Bergunerfahrenen in Not nicht helfen, sondern diese «verrecken lassen» solle.
Als der deutsche Kaiser am 31. Juli 1914 den Kriegszustand anordnet, stellt Kreuzpointner schleunigst ein Einbürgerungsgesuch, da er sonst eingezogen wird, und er bekommt den Schweizer Pass auch zügig. Im Februar 1919 zieht er innerhalb des Halbkantons Ausserrhoden um nach Trogen und eröffnet dort eine Schuhmacherwerkstatt. Nachdem er nicht Säntiswart geworden ist, zieht er im Dezember 1919 in die Stadt St. Gallen und versucht sich dort ein zweites Mal als selbstständiger Schuhmacher. Wegen alter Schulden wird über den Spezialisten für Berg- und Skischuhe im Dezember 1921 der Konkurs verhängt. Zwar findet er eine Anstellung als Schuhmacher bei der Schuhhandlung in Romanshorn, die er am 30. Januar 1922 auch antritt. Aber schon nach einer Woche wirft er das Handtuch.

Am Morgen des 21. Februar meldet sich Magdalena erneut telegrafisch und teilt mit, dass Kreuzpointner angesichts des schönen Wetters nun endlich Anstalten mache, zu gehen. Das ist das letzte Lebenszeichen vom Gipfel. Aufgrund des bei der Obduktion vorgefundenen Magen- und Darminhaltes kann erschlossen werden, dass Magdalena spätestens zwei Stunden nach dem Mittagessen ermordet worden ist, Heinrich schon eine halbe oder ganze Stunde vorher.
Da Kreuzpointner eine Pistole bei sich hatte, wird er von Anfang an vorgehabt haben, die beiden zu erschiessen. Er scheint sie dafür verantwortlich zu machen, dass nicht er die für ihn so attraktive Stelle des Säntiswartes erhalten hat, die noch dazu sehr gut bezahlt ist. Im kurzen Abschiedsbrief an seine Freundin erwähnt er die Tat mit keinem Wort.
Makaberes Hin und Her um die Leichen
Um die kantonale Zuständigkeit für das Verbrechen kam es damals zu einem Gerangel unter Fachleuten: Auf dem Säntisgipfel kommen die Grenzen des Kantons St. Gallen sowie der beiden Halbkantone Appenzell Ausserrhoden und Innerrhoden zusammen. Die Leiche von Magdalena Haas wurde klar auf Territorium von Innerrhoden gefunden, da sich die Wetterwarte voll und ganz auf diesem befindet. Heinrichs Leiche lag hingegen an einer Stelle, für welche der Grenzverlauf zwischen St. Gallen und Innerrhoden auf der Karte zu ungenau eingezeichnet war, als dass sie eindeutig zugeordnet werden konnte. Darum wurden die polizeilichen und anatomischen Ermittlungsarbeiten zwischen Innerrhoden und St. Gallen aufgeteilt.
Kreuzpointners Leiche wurde auf dem Gebiet der ausserrhodischen Gemeinde Urnäsch gefunden. Ein Grab auf dem dortigen Friedhof wurde ihm jedoch verwehrt, mit der Begründung, dass dies zu einer «Entweihung des Friedhofs» geführt hätte. Auch sein Bürgerort Herisau und die Stadt St. Gallen, wo er zuletzt seine Schriften hatte, wollten den Übeltäter nicht auf ihrem Grund und Boden haben. Damit verstiessen die drei alle gegen die Bundesverfassung. Denn gemäss dieser haben die Behörden dafür zu sorgen, «dass jeder Verstorbene schicklich beerdigt werden kann». Die Leiche wurde dem Anatomischen Institut der Universität Zürich für Studienzwecke zur Verfügung gestellt. Den Transport bezahlten die drei Gemeinden.
Kreuzpointners Leiche wurde auf dem Gebiet der ausserrhodischen Gemeinde Urnäsch gefunden. Ein Grab auf dem dortigen Friedhof wurde ihm jedoch verwehrt, mit der Begründung, dass dies zu einer «Entweihung des Friedhofs» geführt hätte. Auch sein Bürgerort Herisau und die Stadt St. Gallen, wo er zuletzt seine Schriften hatte, wollten den Übeltäter nicht auf ihrem Grund und Boden haben. Damit verstiessen die drei alle gegen die Bundesverfassung. Denn gemäss dieser haben die Behörden dafür zu sorgen, «dass jeder Verstorbene schicklich beerdigt werden kann». Die Leiche wurde dem Anatomischen Institut der Universität Zürich für Studienzwecke zur Verfügung gestellt. Den Transport bezahlten die drei Gemeinden.

«Man kann es nicht fassen,
man will es nicht glauben
und fragt sich nur immer:
Wie konnt’ dies geschehen?
Es könnte den Glauben an Gott
uns fast rauben!
Warum, Schöpfer,
liessest die Tat du begeh’n?»
Die grosse Anteilnahme umfasst auch die beiden zu Vollwaisen gewordenen Töchter. Eine Sammelaktion bringt viel Geld ein, und weil auch von der Hinterbliebenenversicherung finanzielle Unterstützung kommt, braucht man sich um die Zukunft der beiden Mädchen keine Sorgen zu machen. Beide erhalten einen Vormund, der bis zur Volljährigkeit ihre Interessen wahrnimmt. Zunächst kommen beide bei Verwandten unter, dann einzeln bei Pflegeeltern. Sogar der Verbleib von Hund «Sturm» wird in den Akten erwähnt: Heinrichs Bruder übernimmt ihn.
Dieser Artikel wurde vom Bieler Tagblatt übernommen. Er ist dort am 19.2.2022 unter dem Titel «Dort oben ist es zum Sterben schön» publiziert worden.