Schweizer Grenzwächter im Einsatz. Tessin 19xx.
Schweizer Grenzwächter im Einsatz. Tessin 1946. Schweizerisches Zollmuseum

Verfolgt und geflüchtet

Ab Sommer 1943 nahm der Schmuggel an der Südgrenze der Schweiz noch einmal zu. Neben Waren wurden immer mehr Flüchtende in die Schweiz geschmuggelt.

Maria Moser-Menna

Maria Moser-Menna

Maria Moser-Menna ist Leiterin des Schweizerischen Zollmuseums in Cantine di Gandria.

Die Südgrenze der Schweiz zu Italien ist diejenige Grenze der Schweiz, wo der Schmuggel in der Vergangenheit die grösste Bedeutung hatte und intensiv betrieben wurde. Dieses gefährliche Gewerbe war für die Menschen im Tessin und in den Tälern des italienischen Graubündens seit Jahrzehnten ein selbstverständlicher Teil des Lebens. Für zahlreiche Familien auf beiden Seiten der Grenze war der Schmuggel ein Beruf wie jeder andere, der ein willkommenes Einkommen brachte. Der Schmuggel mit Lebensmitteln und anderen Waren war in breiten Bevölkerungskreisen akzeptiert. Er erlebte während des Zweiten Weltkriegs seinen Höhepunkt. Hinzu kamen in dieser Zeit die Flüchtlinge aus Norditalien, die über die Grenzen in die sichere Schweiz gelangen wollten. Als der Schmuggel an der Südgrenze seine Blütezeit hatte, kam es immer wieder zu Konfrontationen zwischen Grenzwächtern und Schmugglern. Dies war eine grosse Herausforderung und ähnelte einem Katz- und Mausspiel. Ab und zu drückten die Grenzwächter ein Auge zu und liessen die Schmuggler gewähren, weil sie wussten, dass ihre Familien auf das Geld angewiesen waren.
Inszenierung der Verhaftung von zwei Schmugglern im Tessin, vermutlich Ende der 1940er-Jahre.
Inszenierung der Verhaftung von zwei Schmugglern im Tessin, vermutlich Ende der 1940er-Jahre. Schweizerisches Zollmuseum
Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg, in den 1930er-Jahren, zeichnete sich ein Schmuggler aus dem hinteren Valle d’Intelvi durch seinen besonderen Mut und seine Dreistigkeit aus. Er konnte den Grenzwächtern immer wieder entwischen. Er hiess Clemente Malacrida und wurde der «Herzog der Berge» genannt. Eine seiner waghalsigsten Aktionen war ein versuchter Grenzübertritt bei Arogno, am 3. Januar 1934. Malacrida führte eine Kolonne von 131 Schmugglern an. Sie wurden von den Grenzwächtern in die Flucht gejagt. Kurze Zeit später konnte der «Herzog der Berge» nach einer aufwändigen Suche festgenommen werden.
Der Herzog der Berge: Porträt von Clemente Malacrida, genannt «Il Ment».
Der Herzog der Berge: Porträt von Clemente Malacrida, genannt «Il Ment». Storici di Como, Dall'età di Volta all'epoca contemporanea (1870 - 1950).
Haftbefehl von 1934 für Clemente Malacrida.
Haftbefehl von 1934 für Clemente Malacrida. Staatsarchiv von Como
Im Mai 1936 kam er bei einem Fluchtversuch unter unklaren Umständen ums Leben, erschossen von den Polizisten. Die geheimnisvollen Umstände seines Todes trugen wesentlich zur Legendenbildung über diesen ausserordentlichen Schmuggler bei. An der Grenze zwischen Italien und der Schweiz suchten viele Menschen Schutz vor Verfolgung und Tod. Einige Flüchtlinge, die sich bis zu einem Grenzposten retten konnten, hatten das Glück, in die Schweiz einreisen und dort in Sicherheit weiterleben zu dürfen. Andere hingegen erwartete ein hartes Schicksal. Sie wurden vom Schweizer Zoll abgewiesen und damit vielfach in den sicheren Tod in einem Konzentrationslager der Nazis geschickt.
Auch Ornella Ottolenghi stand Ende September 1943 an der Grenze zur Schweiz. Seit die Wehrmacht Italien vor einigen Wochen besetzt hatte, wurden Jüdinnen und Juden rücksichtslos und mit grossem Eifer gejagt. Die Familie Ottolenghi lebte in Mailand und konnte dank der Warnung eines befreundeten Polizisten rechtzeitig in ein Bergdorf zu fliehen. Dort waren sie für kurze Zeit sicher, doch bald schon kamen die Deutschen auch dorthin und den Ottolenghis blieb nur noch eine Option: die Flucht in die Schweiz. Bei Lanzo d'Intelvi schafften sie die Rettung auf sicheres Territorium. Vermeintlich, denn die Schweizer Zöllner, bei denen sie sich in Caprino stellten, schickten die Familie zurück nach Italien.
Der Grenzposten von Caprino. Heute logiert hier das Zollmuseum.
Der Grenzposten von Caprino. Heute logiert hier das Zollmuseum. Schweizerisches Zollmuseum
Mit Hilfe von italienischen Antifaschisten und einigen eingeweihten Tessinern gelang der Familie der Grenzübertritt ein zweites Mal. Ende Oktober waren sie schliesslich in der sicheren Schweiz und stellten sich in Lugano der Polizei. Nun durften sie bleiben. Später wurde Ornella von ihren Eltern getrennt und in ein Kinderheim nach Genf gebracht. Die Trennung von den Eltern erfuhren viele Kinder, welche in die Schweiz geflüchtet waren. Die Familie Ottolenghi hatte Glück und Ornella durfte kurze Zeit später zurück zu ihren Eltern in den Tessin.
Datenblatt von Ornella Ottolenghi für den schweizerischen Flüchtlingsausweis, 1943.
Datenblatt von Ornella Ottolenghi für den schweizerischen Flüchtlingsausweis, 1943. Schweizerisches Bundesarchiv

Gräfin der Mode

Unter den vor dem Nationalsozialismus Flüchtenden befand sich 1943 auch die Gräfin Wally Castelbarco, Tochter des weltberühmten Dirigenten Arturo Toscanini. Toscanini war ein hartnäckiger Gegner des Faschismus. Er lebte damals in den Vereinigten Staaten im Exil. Die Gräfin erreichte mit ihrer kleinen Tochter Emanuela aus Italien kommend am 11. November 1943 den Grenzposten Caprino bei Cantine di Gandria. Der Schweizer Zoll liess sie passieren und rettete auf diese Weise ihr Leben. Gräfin Wally Castelbarco gehörte damals in Mailand zu den bekanntesten Modeikonen.
Gräfin Wally Castelbarco, 1931.
Gräfin Wally Castelbarco, 1931. Getty Images

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