
Stans 1481, vielleicht sind das wir
Fünf Jahre erbitterter Streit, Stadtorte gegen Landorte, sechs Anläufe für eine Lösung, endlich ein Abkommen, besiegelt von den acht Alten Orten, gültig zugleich für die zwei neuen, Freiburg und Solothurn. Recht speziell. Vermutlich haben wir damit etwas zu tun, noch immer. Eine Herleitung mit Deutungsangeboten.
Doch Uri, Schwyz und Unterwalden legen sich nochmals quer. Um in die Eidgenossenschaft aufgenommen zu werden, müssen Freiburg und Solothurn Einschränkungen ihrer Rechte akzeptieren. Also nochmals nach Stans. Verhandlungsbeginn am 18. Dezember, Einigung am 22. Ein Geknorze erster Ordnung. Typisch eidgenössisch, schweizerisch? Nicht ausgeschlossen. Hier die Vorgeschichte.
Burgund. Bern. Krieg
Wenige Tage danach führt ein Berner die antiburgundische Liga auf einem Feldzug in die Freigrafschaft Burgund zum Sieg über ein burgundisches Heer bei Héricourt. 16 gegnerische Anführer werden gefangen nach Basel geführt und dort auf einem Scheiterhaufen öffentlich verbrannt. «Der Alte Schweizer und sein Krieg» – eine Ruhmesgeschichte?
Im Jahr darauf lassen Bern und Freiburg, unterstützt von Luzern, Kriegsbanden in die Westschweiz ziehen. Diese erobern in kurzer Zeit 16 Städte und 43 Burgen. Überall erzwingen sie den Untertaneneid.
Die übrigen eidgenössischen Orte grenzen sich von der rücksichtslosen Expansion Berns vorerst ab. Im bevorstehenden Krieg eilen sie Bern denn auch erst im letzten Moment zu Hilfe. «Karl der Kühne verliert bei Grandson das Gut, bei Murten den Mut, bei Nancy das Blut.» Laut Merkvers ist der edle Herzog das einzige Opfer. So war es nicht.


Jerusalem im Abendland
Auf der ersten Karte lässt Atlas die Sonne auf- und untergehen, auf der zweiten werden Affrica, Asia und Europa situiert. Die dritte Karte fokussiert auf Europa: die Alpen zwischen Italia, Alamania und Gallia. Auf der vierten Karte geschieht Unerhörtes: Bonstetten setzt die Rigi in die Mitte der Welt und umgibt sie mit den acht Alten Orten der Eidgenossenschaft. Das Werk ist vollbracht, das «usserwelte» Volk der Eidgenossen im Zentrum des Erdkreises.
Kriegerbanden
Der Ernst der Lage ermisst sich daran, dass die Städte alles geben, um diesen Zug zu stoppen. Gesandtschaften aus Bern, Genf, Basel, Strassburg eilen zu den kriegerischen Haufen, die bereits Payerne und Lausanne erreicht haben. Der «Gesellschaft vom torechten Leben» wird hofiert. Genf muss herausrücken, was in sämtlichen Kassen verfügbar ist. Schliesslich werden auf Kosten der Stadt vier Fässer Wein herangekarrt und jedem Kriegsknecht zwei Gulden bar in die Hand gedrückt. – Abbruch der Übung, rechtsumkehrt.
Spaltung?
Der Kolbenbannerzug veranlasst Bern, Luzern, Zürich zu einem Städtebund mit Freiburg und Solothurn, die 1477 beide der Eidgenossenschaft noch nicht angehören. Die Bürger jeder einzelnen Stadt werden damit auch Bürger der jeweils anderen vier Städte. Das führt zum erbitterten Streit mit den fünf Landorten, vor allem mit Uri, Schwyz und Unterwalden. Zug zählt aufgrund seiner Landsgemeinde als Landort. Nach zähem Ringen wird an der Tagsatzung in Stans im Dezember 1481 eine Lösung gefunden, auch dank der Vermittlung von Bruder Klaus. Kurt Messmer / Schweizerisches Nationalmuseum
Quadratur des Kreises
Der Knackpunkt ist die Aufnahme von Freiburg und Solothurn in die Eidgenossenschaft. Vorerst sind die beiden Städte noch als Mitunterzeichner der Satzungen vorgesehen, Ende 1481 auf Drängen der drei inneren Orte aber nicht mehr. Das Stanser Verkommnis wird nur mit den Siegeln der acht Alten Orte beglaubigt – ohne Freiburg und Solothurn.
Ein Schlüssel zum Erfolg: Beide Seiten wahren das Gesicht. Die Landorte setzen durch, dass der Städtebund aufgelöst wird. Im Gegenzug erreichen die Stadtorte, dass Freiburg und Solothurn in die Eidgenossenschaft aufgenommen werden. Eine bedeutende Leistung. «Stans 1481» steht für Einigung im Geiste Niklaus von Flües, des Landesheiligen.
Machtkartell
Die politischen Satzungen sind wirkmächtig. «Mutwillige Gewalt» wird untersagt. Die Untertanen dürfen sich ohne Einwilligung der Obrigkeit nicht versammeln. Das schränkt ihre politischen Handlungsmöglichkeiten massiv ein. Sollte es dennoch zu Widerstand oder offenem «Abfall» kommen, verpflichten sich die Regierungen gegenseitig zu militärischer Unterstützung.
Damals. Heute. Fünf Deutungsangebote
Zweitens – Stadt und Land sind aufeinander angewiesen. Sie stehen dennoch in einem latenten Spannungsverhältnis, bis heute. Dass es gelegentlich kracht im Gebälk, ist unvermeidlich. Entscheidend ist das Sich-Zusammenraufen. Als Grundhaltung alternativlos.
Drittens – Mehrheit und Minderheit sind politische Zwillinge. Beide schauen mit Argwohn, dass sie je auf ihre Rechnung kommen. Nach ungeschriebenem Gesetz ist die Minderheit zu respektieren. Doch keine Regel ohne Ausnahmen.
Viertens – Hauptantriebe beim politischen Seilziehen sind Gemeinsinn und Eigennutz. Der Gemeinsinn hat es schwerer und versucht den Eigennutz in Schranken zu halten. Vor allem Hau-Ruck-Aktionen, die das Gemeinwohl schwächen, sollen verhindert werden. Erfolgsaussichten vorhanden, doch unsicher.
Fünftens – Das schweizerische Allzweckwerkzeug ist der Kompromiss, die Kunst des Möglichen. Die Bereitschaft dazu führt 1481 zur ultimativen Lösung. Auch in der Konkordanzdemokratie unentbehrlich. Allerdings: Kompromisse gibt es in 1481 Schattierungen.
Nachgefragt – Wie steht es mit unseren kollektiven mentalen Prägungen? Wirken sie sich über Jahrhunderte hinweg auf unser politisches Denken und Handeln aus? Wie entwickeln sich kollektive Identitäten in einem Land wie der Schweiz, die von einem ehemaligen Auswanderungsland längst zu einem Einwanderungsland geworden ist? Alles komplex, schwierig, unsicher. Dennoch: Stans 1481, vielleicht sind das wir.


