
Die Scheintote von Luzern
Marie Josse d’Hemel heiratete einen Luzerner Patrizier und galt als besonders vornehme Dame. Grosse Berühmtheit erlangte sie, weil sie zweimal starb! Nach dem ersten Mal wollte ihr der Totengräber die teuren Kleider stehlen, worauf sie wiedererwachte und nochmals 20 Jahre weiterlebte – quasi als wandelndes Mahnmal für potentielle Grabräuber.
Bald hatte die Familie Pfyffer von Wyher-d’Hemel zwei Töchter und zwei Wohnsitze: ein doppeltes Stadthaus beim Mühlenplatz in Luzern sowie das herrschaftliche Landschloss Wyher bei Ettiswil. Es wird erzählt, dass Marie Josse eine bemerkenswert schöne Frau gewesen sein soll, welche die exquisite französische Mode nach Luzern brachte. Sie war die erste Frau in Luzern mit einem Parapluie und mit einem Parasol, also mit Regen- und mit Sonnenschirm! Der Luzerner Regierung mochte die Aufsehen erregenden Auftritte der Neo-Luzernerin allerdings nicht, sodass sie 1755 die Französin bat, doch bitte fortan dezentere Kleidung zu tragen, wie man es damals in der Innerschweiz gewohnt war.


Danach aber geschah Unerhörtes: In der darauffolgenden Nacht hob ein raffgieriger Totengräber das Grab aus und öffnete den Sarg. Er raubte der Verstorbenen die Kleidung und den Schmuck. Als er sich schliesslich am Unterrock zu schaffen machte, soll die Verstorbene Marie Josse plötzlich die Augen geöffnet und sich aus dem Sarg erhoben haben. Daraufhin sei sie im Leichenhemd quer durch die Stadt Luzern von der Hofkirche zum Mühlenplatz nach Hause gelaufen, wo sie noch 20 Jahre bis 1800 weitergelebt haben soll – ohne jemals wieder zu lächeln.

Egal, ob Kleidung oder Ring – die Geschichte ist reichlich gruselig. Aber sie ist kein Luzerner Unikat. Denn sie wird, wie der Luzerner Volkskundler Kurt Lussi nachgewiesen hat, auch in abgeänderter Form und an anderen Orten erzählt. Es handelt sich demnach um eine sogenannte Wandersage, also eine Sage, die in verschiedenen Varianten an verschiedenen Orten vorkommt. So auch in England, wo Lady Emma Edgcumbe durch einen Friedhofsdieb zu einer «Verlängerung» ihrer Zeit auf Erden kam.
Die Absicht der Geschichte(n) ist klar: Die gruselige Story soll mithelfen, die Totenruhe von Verstorbenen zu gewährleisten und Grabräuber zu verscheuchen.

«(...) Gespenstisch glühte die Ampel, erhellt das Graun der Nacht,
Im Sarg regt sich die Freiin, vom Scheintod aufgewacht,
Wie da der frevle Schurke, vom wilden Schreck erlebt,
Als plötzlich bleich die Tote, vom Lager sich erhebt.
Beim trüben Glanz der Sterne, schwankt heim ein armes Weib,
Vom Weiher ist’s die Herrin, so krank an Seel und Leib.
Noch lebt sie zwanzig Jahre, für Kinder und den Gemahl,
Nie sieht man sie mehr lächeln, im lichten Rittensaal.
Der frevle Totengräber floh über Feld und Au,
Vom Schrecken übermannet, stürzt er in das Tau.
Am Morgen finden Wandrer den Frevler starr und bleich,
Der nächtlich’ Grabschänder – ein Retter war zugleich.»