Marie Josse Pfyffer-d’Hemel soll wegen eines Grabräubers rund 20 Jahre länger gelebt haben.
Marie Josse Pfyffer-d’Hemel soll wegen eines Grabräubers rund 20 Jahre länger gelebt haben. Bild: Gletschergarten Luzern

Die Schein­to­te von Luzern

Marie Josse d’Hemel heiratete einen Luzerner Patrizier und galt als besonders vornehme Dame. Grosse Berühmtheit erlangte sie, weil sie zweimal starb! Nach dem ersten Mal wollte ihr der Totengräber die teuren Kleider stehlen, worauf sie wiedererwachte und nochmals 20 Jahre weiterlebte – quasi als wandelndes Mahnmal für potentielle Grabräuber.

Michael van Orsouw

Michael van Orsouw

Michael van Orsouw ist promovierter Historiker, Bühnenpoet und Schriftsteller. Er veröffentlicht regelmässig historische Bücher.

Die Geschichte eignet sich zum Gruseln und zum Weitererzählen. Es war im Jahre 1741, als die junge Marie Josse d’Hemel aus Argenteuil bei Paris den Luzerner Patrizier Franz Ludwig Pfyffer von Wyher heiratete. Sie war die 19-jährige Tochter eines Generals, er ein hoher Söldner-Offizier in französischen Diensten, der er es bis zum Generalleutnant brachte. Marie und Franz zogen nach der Heirat nach Luzern. Bald hatte die Familie Pfyffer von Wyher-d’Hemel zwei Töchter und zwei Wohnsitze: ein doppeltes Stadthaus beim Mühlenplatz in Luzern sowie das herrschaftliche Landschloss Wyher bei Ettiswil. Es wird erzählt, dass Marie Josse eine bemerkenswert schöne Frau gewesen sein soll, welche die exquisite französische Mode nach Luzern brachte. Sie war die erste Frau in Luzern mit einem Parapluie und mit einem Parasol, also mit Regen- und mit Sonnenschirm! Der Luzerner Regierung mochte die Aufsehen erregenden Auftritte der Neo-Luzernerin allerdings nicht, sodass sie 1755 die Französin bat, doch bitte fortan dezentere Kleidung zu tragen, wie man es damals in der Innerschweiz gewohnt war.
Die Dame legte Wert auf eine exquisite Kleidung: Marie Josse Pfyffer-d’Hemel.
Die Dame legte Wert auf eine exquisite Kleidung: Marie Josse Pfyffer-d’Hemel. Bild: Gletschergarten Luzern
Porträt von Franz Ludwig Pfyffer von Wyher, 1775.
Porträt von Franz Ludwig Pfyffer von Wyher, 1775. Schweizerisches Nationalmuseum
Doch Marie Josse dachte nicht daran, den obrigkeitlichen Rat zu befolgen. Ganz im Gegenteil. Mit ihren extravaganten Auftritten animierte sie etliche Luzernerinnen, ebenfalls ausladende Reifröcke und gewagte Décolletés zu tragen. Trotz ihrem Hang zu auffallender Garderobe war sich die Dame keineswegs zu fein, den Um- und Ausbau ihres Landschlosses in Ettiswil anzuleiten, weil ihr Mann viel unterwegs war. So liess sie den Wassergraben ums Anwesen ausheben und richtete das zweite Obergeschoss im Louis-XVI.-Stil ein. Auch bestieg sie den Luzerner Hausberg Pilatus, was zu jener Zeit sehr aussergewöhnlich war, erst recht für eine vornehme Dame wie die gebürtige Französin. 1780 ging Marie Josses Leben zu Ende. Geschmückt mit edlen Kleidern und teurem Schmuck bekam sie ein Grab auf dem Friedhof der Hofkirche; die halbe Stadt Luzern gab ihr ein ehrendes Geleit. Danach aber geschah Unerhörtes: In der darauffolgenden Nacht hob ein raffgieriger Totengräber das Grab aus und öffnete den Sarg. Er raubte der Verstorbenen die Kleidung und den Schmuck. Als er sich schliesslich am Unterrock zu schaffen machte, soll die Verstorbene Marie Josse plötzlich die Augen geöffnet und sich aus dem Sarg erhoben haben. Daraufhin sei sie im Leichenhemd quer durch die Stadt Luzern von der Hofkirche zum Mühlenplatz nach Hause gelaufen, wo sie noch 20 Jahre bis 1800 weitergelebt haben soll – ohne jemals wieder zu lächeln.
Friedhof der Luzerner Hofkirche.
Friedhof der Luzerner Hofkirche. ETH Bibliothek Zurich
So jedenfalls stellt es Theodor von Liebenau in seinem Buch «Das alte Luzern» von 1881 dar. Liebenau (1840–1914) war übrigens nicht irgendein dahergelaufener Geschichtenerzähler, sondern immerhin Staatsarchivar des Kantons Luzern und Ehrendoktor der philosophischen Fakultät der Universität Bern. In einer Variante der Geschichte spricht man von einem teuren Ring der Edlen, welchen der Totengräber erbeuten wollte. Kurz vor dem Abschneiden des Fingers erwachte die Totgeglaubte, erhob sich und ging nach Hause. Egal, ob Kleidung oder Ring – die Geschichte ist reichlich gruselig. Aber sie ist kein Luzerner Unikat. Denn sie wird, wie der Luzerner Volkskundler Kurt Lussi nachgewiesen hat, auch in abgeänderter Form und an anderen Orten erzählt. Es handelt sich demnach um eine sogenannte Wandersage, also eine Sage, die in verschiedenen Varianten an verschiedenen Orten vorkommt. So auch in England, wo Lady Emma Edgcumbe durch einen Friedhofsdieb zu einer «Verlängerung» ihrer Zeit auf Erden kam. Die Absicht der Geschichte(n) ist klar: Die gruselige Story soll mithelfen, die Totenruhe von Verstorbenen zu gewährleisten und Grabräuber zu verscheuchen.
Emma Edgcumbe, Herzogin von Mount Edgcumbe, auf Leinwand festgehalten von James Rannie Swinton.
Emma Edgcumbe, Herzogin von Mount Edgcumbe, auf Leinwand festgehalten von James Rannie Swinton. Wikimedia / National Trust
Zum Schicksal des Grabschänders hiess es passenderweise in einem Gedicht in der Willisauer Zeitungsbeilage «Der Hinterländer»: «(...) Gespenstisch glühte die Ampel, erhellt das Graun der Nacht, Im Sarg regt sich die Freiin, vom Scheintod aufgewacht, Wie da der frevle Schurke, vom wilden Schreck erlebt, Als plötzlich bleich die Tote, vom Lager sich erhebt. Beim trüben Glanz der Sterne, schwankt heim ein armes Weib, Vom Weiher ist’s die Herrin, so krank an Seel und Leib. Noch lebt sie zwanzig Jahre, für Kinder und den Gemahl, Nie sieht man sie mehr lächeln, im lichten Rittensaal. Der frevle Totengräber floh über Feld und Au, Vom Schrecken übermannet, stürzt er in das Tau. Am Morgen finden Wandrer den Frevler starr und bleich, Der nächtlich’ Grabschänder – ein Retter war zugleich.»

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