Wiederverwendete Bausteine, sogenannte «Spolien», in der Ausstellung «Das zweite Leben der Dinge» im Landesmuseum Zürich.
Wiederverwendete Bausteine, sogenannte «Spolien», in der Ausstellung «Das zweite Leben der Dinge» im Landesmuseum Zürich. Schweizerisches Nationalmuseum

Wie alte Steine einen neuen Zweck erhielten

In der Antike, im Mittelalter, aber auch noch in der Neuzeit setzte man Steine aus älteren Gebäuden in neue Bauwerke ein. Vieles wurde durch diese Praxis zerstört – anderes ist nur dank ihr bis in die Gegenwart erhalten geblieben.

Jacqueline Perifanakis

Jacqueline Perifanakis

Jacqueline Perifanakis ist Kuratorin beim Schweizerischen Nationalmuseum.

Das Konzept des zirkulären Bauens – die Nutzung von Bestehendem – hat aus Gründen der Nachhaltigkeit in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen. Wird ein Gebäude dennoch abgerissen, sollten wiederverwertbare Bauteile im Idealfall aussortiert werden. Einst war dies eine gängige Praxis: Insbesondere in der Antike und im Mittelalter, aber auch bis in die Neuzeit hinein, wurde ältere Bausubstanz quasi als Materiallager genutzt. Einzelne Bauteile und Dekorelemente älterer Gebäude, die in neueren Bauten wiederverwendet werden, bezeichnet man als Spolien. Der Begriff stammt aus dem Lateinischen und wird ursprünglich mit «Beute» oder «Raub» in Verbindung gebracht. Eines der bekanntesten Beispiele für den Einsatz von Spolien ist der Konstantinsbogen in Rom, ein Triumphbogen zu Ehren des römischen Kaisers Konstantin, errichtet zwischen 312 und 315 n. Chr. Viele der Reliefs, die den Bogen schmücken, sind Spolien. Sie stammen von Bauwerken berühmter Kaiser wie Trajan, Hadrian und Marc Aurel aus dem 2. Jahrhundert und wurden in den Neubau eingepasst. Über die Gründe dafür scheiden sich die Geister, wollte Konstantin an seine berühmten Vorgänger anknüpfen oder herrschte Mangel an künstlerischer Fähigkeit oder brauchbarem Stein?
Der Konstantinsbogen in Rom, ein antikes Bauwerk aus noch älteren Bauteilen.
Der Konstantinsbogen in Rom, ein antikes Bauwerk aus noch älteren Bauteilen. Wikimedia / Philippos

Die Säule in der Ecke

Zum Bauen nutzten die Römer oft Rohstoffe aus der näheren Umgebung, aus praktischen Gründen, aus Kostengründen und weil der Materialtransport zeitraubend und aufwändig war. Auch ihre Nachfolger verwendeten oft römische Bauteile wieder. Eine römische Säulentrommel wurde 1958 bei Bauuntersuchungen der kantonalen Denkmalpflege Zürich in Elsau entdeckt. Sie bildete um 1000 n. Chr. die Ecke eines mittelalterlichen Wohnturms. Als Ecksteine verwendete man gerne grosse Steinblöcke, da diese dem Bau eine gute Stabilität verliehen. Die Säulentrommel ist mit ihrem Durchmesser von 57 cm viel zu mächtig, um einst Teil einer privaten römischen Villa gewesen zu sein. Man vermutet daher, dass sie ursprünglich zur Säulenstellung eines monumentalen Gebäudes, vielleicht eines Tempels, in Vitudurum, dem heutigen Oberwinterthur gehört haben dürfte. Elsau ist von Oberwinterthur nur etwa vier Kilometer entfernt, man sparte im Mittelalter also Zeit und Geld, indem man in den römischen Ruinen nach passendem Baumaterial suchte.
Teil einer römischen Säule aus Kalkstein, vielleicht aus Oberwinterthur, die um das Jahr 1000 in einem mittelalterlichen Gebäude in Elsau neu verbaut wurde.
Teil einer römischen Säule aus Kalkstein, vielleicht aus Oberwinterthur, die um das Jahr 1000 in einem mittelalterlichen Gebäude in Elsau neu verbaut wurde. Schweizerisches Nationalmuseum

Der Gott im Turm

Die Säulentrommel hatte demnach einen rein praktischen Nutzen als Baumaterial. Spolien können aber auch als Bauschmuck in Szene gesetzt werden und darüber hinaus noch weiteren Zwecken dienen, wie am Beispiel eines römischen Reliefs mit einer Darstellung des Gottes Attis augenscheinlich wird. Es ist weit oben an der Tour César (auch Caesars Tum), einem mittelalterlichen Turm im westschweizerischen Nyon verbaut. Das Landesmuseum verfügt über einen Gipsabguss des Reliefs, der 1924 angefertigt wurde. Das Original befindet sich immer noch vor Ort; noch heute blickt der Gott nachdenklich auf die Stadt herab. Attis, war in der antiken Mythologie ein schöner aber früh verstorbener Jüngling und Geliebter der Göttermutter. Er tritt im römischen Totenkult oft in Erscheinung und symbolisiert die Trauer um die Verstorbenen. Vermutlich war das Relief im 1. Jahrhundert n. Chr. einst schmückender Teil eines römischen Grabbaus.
Im oberen Bereich der Tour César in Nyon ist rechts vom zentralen Fenster das Attis-Relief zu erkennen.
Im oberen Bereich der Tour César in Nyon ist rechts vom zentralen Fenster das Attis-Relief zu erkennen. Wikimedia / Leemburg
Wieso wurde die römische Grabskulptur rund 900 Jahre nach ihrer ursprünglichen Verwendung in den mittelalterlichen Turm verbaut? Das lässt sich mit der Stadtgeschichte erklären: An der Stelle von Nyon befand sich einst das römische Colonia Iulia Equestris, gegründet um 45 v. Chr. von keinem geringeren als Julius Caesar. Sie war damals eine der wichtigsten Ortschaften am Genfersee, ausgestattet mit imposanten Gebäuden: einem Hauptplatz samt Tempel, Markthalle, Badeanlagen und einem Amphitheater. Von diesen Bauten haben sich zahlreiche Reste erhalten. Einige von ihnen sind in der Tour César als Spolien verbaut, wobei das Attis-Relief das prägnanteste Bauteil ist. Mit dieser Wiederverwendung und Zurschaustellung römischer Bauteile wollte man wohl die glorreiche römische Vergangenheit der Stadt vergegenwärtigen. Möglicherweise hielten die mittelalterlichen Erbauer das Relief für eine Darstellung des Stadtgründers Caesar, daher auch der Name des Turms.
Gipsabguss des Reliefs von Attis.
Gipsabguss des Reliefs von Attis. Schweizerisches Nationalmuseum

Spolien im Museum

Die Wiederverwendung von Bauteilen und Bauschmuck als Spolien konnte einerseits zu deren Erhaltung beitragen, anderseits führte die langjährige Nutzung alter Bauwerke als Steinbruch und Materiallager auch zur Zerstörung historischer Bausubstanz. Das Bewusstsein für den Wert alter Steine als Zeugnisse der eigenen Vergangenheit wuchs in Europa im 18. und 19. Jahrhundert. In der Schweiz wurde 1880 der Verein zur Erhaltung vaterländischer Kunstdenkmäler gegründet, der sich neben Restaurierungen, Ausgrabungen und Kunstankäufen auch um die Inventarisierung der schweizerischen Monumente kümmerte. In Museen wurden zumindest Teile von Bauwerken für die Nachwelt erhalten. Auch in die Architektur des 1898 eröffneten Landesmuseums in Zürich sind historische Bauteile und Skulpturenschmuck als Spolien integriert. Sie sollten den Exponaten einen passenden Rahmen und den Besucherinnen und Besuchern eine Vorstellung von der Baukunst vergangener Epochen geben. Noch heute bilden alte Holzdecken, Bodenfliesen und Türen aus Kirchen oder Schlössern, Masswerkfenster und Arkadenreihen aus längst abgerissenen Klöstern, sogar vollständig eingebaute historische Zimmer einen wichtigen Kern des Museums und können in der Dauerausstellung «Die Sammlung» besichtigt werden.
Handzeichnung des Ausstellungsraums «Oberer Kreuzgang» mit eingebauten Spolien im Landesmuseum Zürich, 1904.
Handzeichnung des Ausstellungsraums «Oberer Kreuzgang» mit eingebauten Spolien im Landesmuseum Zürich, 1904. Schweizerisches Nationalmuseum

Das zweite Leben der Dinge. Stein, Metall, Plastik

14.06.2024 10.11.2024 / Landesmuseum Zürich
Die Wegwerf- und Konsumgesellschaft ist ein junges Phänomen in der Geschichte der Menschheit. Knappheit und Mangel bestimmten früher den Umgang mit Materialien und Gegenständen. Bis zur industriellen Revolution im späten 18. Jahrhundert war es üblich, Kleidung weiterzugeben, Werkzeuge zu reparieren, Baumaterial weiterzuverwenden, Bronzegegenstände einzuschmelzen und neu zu formen oder Glasgefässe wiederzuverwerten. Ob aus Stoff, Metall, Stein oder Glas – für alle möglichen Dinge war ein zweites, drittes oder gar unendliches Leben vorgesehen. Die Ausstellung wirft einen Blick auf vergangene und heutige Methoden der Kreislaufwirtschaft. Objekte von der Steinzeit bis zur Gegenwart zeigen, wie ihre Geschichte das Bewusstsein für den Wert der Dinge schärfen kann.

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