Soldaten der Fortifikation Murten üben auf der Schanze Unterfeld den Ernstfall.
Soldaten der Fortifikation Murten üben auf der Schanze Unterfeld den Ernstfall. Wikimedia / Schweizerisches Bundesarchiv

Die befestig­te Sprachgrenze

Im Ersten Weltkrieg soll die Fortifikation Murten einen französischen Angriff aus Westen aufhalten. Im Berner Seeland und im Murtenbiet entstehen Schützengraben und Bunker. Viele dieser Bauten liegen direkt auf der Sprachgrenze!

Juri Jaquemet

Juri Jaquemet

Dr. phil., Sammlungskurator für Informations- und Kommunikationstechnologie, Museum für Kommunikation, Bern

Mit den Seespiegelsenkungen der Ersten Juragewässerkorrektion ist das Grosse Moos leichter passierbar geworden. Vorher bildeten die Sümpfe ein natürliches Geländehindernis im Landesinneren. Ab 1901 ist Bern per Eisenbahnstrecke via Neuenburg und Val de Travers mit Pontarlier verbunden. Diese Route ist die kürzeste Verbindung von Frankreich nach Bern. Nachdem 1913 die Eisenbahnstrecke Lötschberg-Simplon eröffnet wird, ist die Linie Pontarlier-Bern Teil der zweiten Alpentransversale durch die Schweiz. Nach Kriegsausbruch 1914 befürchtet das Schweizer Militär einen französischen Umfassungsangriff durch die Schweiz in Richtung der unbefestigten deutschen Südgrenze. Damit hätten die Franzosen die seit Herbst 1914 erstarrte Westfront umgehen können. Um einem allfälligen Angriff entgegenzuwirken, befiehlt die Armeeführung 1914 den Bau der Fortifikation Murten. Diese soll die Linie Zihlkanal–Mont Vully–Murten–Laupen sperren und Bern vor Angriffen aus dem Gebiet der Westschweiz schützen.
Die Fortifikation Murten wurde exakt auf die Sprachgrenze gebaut.
Die Fortifikation Murten wurde exakt auf die Sprachgrenze gebaut. Karte: swisstopo / Bearbeitung. Juri Jaquemet
Die Befestigungen liegen auf geschichtsträchtigem Boden und der Name der Fortifikation appelliert an einen Erinnerungsort. Das Stichwort Murten ist im kollektiven Gedächtnis mit dem 1476 errungenen Sieg der Eidgenossen über das Heer des burgundischen Herzogs Karl der Kühne verbunden. Schon einmal hat man hier einen Feind aus dem Gebiet Frankreichs niedergerungen. Noch heute nennt der Volksmund den auffälligen Einschnitt des Val-de-Travers-Tals in die Jurakette Burgunderloch.
Das Burgunderloch, gemalt von Auguste-Henry Berthoud, gegen Ende des 19. Jahrhunderts.
Das Burgunderloch, gemalt von Auguste-Henry Berthoud, gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Wikimedia
Beim Bau der Fortifikation Murten setzt die Armee 1914-1917 auf verstärkte Feldbefestigungen und Bunker. Der bis dahin sparsam eingesetzte Baustoff Beton nutzt man nun intensiv und baut in den ersten Kriegsmonaten Infanterie-Stützpunkte. Dies sind von Stacheldrahthindernissen umgebene Schützengrabensysteme in Halbkreisform. In der Kehle, der Rückseite eines Werkes, bieten betonierte Unterstände Schutz vor feindlichem Beschuss. Die Stützpunkte liegen in Schussdistanz auseinander und flankieren sich gegenseitig. Das Gros dieser Anlagen steht auf offenem Feld. Für gute Weitsicht sowie optimale Feuerwirkung riskieren die Erbauer eine grosse Exponiertheit bezüglich der feindlichen Artillerie. Die wenigen eigenen Artillerie-Batterien platziert man in bewaldeten Hängen, wo ein gewisser Grad an Deckung gegeben ist.
Eine Artilleriestellung im Waldgebiet des Jolimonts. Sie ist mit Tannenzweigen getarnt, um auch aus der Luft nicht bemerkt zu werden.
Eine Artilleriestellung im Waldgebiet des Jolimonts. Sie ist mit Tannenzweigen getarnt, um auch aus der Luft nicht bemerkt zu werden. Wikimedia / Schweizerisches Bundesarchiv
1915 werden die bestehenden Anlagen ausgebaut und durch betonierte Maschinengewehr-Bunker verstärkt. Die unerwartet lange Kriegsdauer führt dazu, dass Massnahmen für mehr Komfort wie die Wasserversorgung, Beleuchtung und Latrinen umgesetzt werden. Zudem werden die Kampfstellungen durch ein Telefonkabel und die Stützpunkte mittels Schützengräben miteinander verbunden. So entstehen durchgehende Verteidigungslinien, die weniger dem Artilleriebeschuss ausgesetzt sind.
In der Fortifikation Murten wurde auf modernste Kommunikationsmittel und effiziente Waffen gesetzt.
In der Fortifikation Murten wurde auf modernste Kommunikationsmittel und effiziente Waffen gesetzt. Wikimedia / Schweizerisches Bundesarchiv
Insbesondere im Jolimont – dem bewaldeten Hügelzug zwischen Erlach und Gampelen – entwickelt sich eine rege Bautätigkeit. Um taktische Tiefe zu gewinnen, werden die Verteidigungslinien in der Zihlebene um eine Hauptkampflinie im Wald ergänzt. Nebst weiteren Betonbunkern entstehen in den Fels gehauene Stollen mit Schiessscharten, ein in die Tiefe gestaffeltes Schützengrabensystem, unterirdische Kasematten und Munitionsdepots sowie Scheinwerferanlagen. Dank dem weichen Sandstein gehen die Bauarbeiten zügig voran. Eine weitere Fortifikation entsteht im Raum Hauenstein. Diese schützt den Eisenbahnknoten Olten und ist Basis für eine offensive Verteidigung des Juras. Nebst der Landesgrenze im Jura werden nördlich der Alpen demnach zwei militärgeografische Schlüsselräume befestigt. Im September 1914 leisten ungefähr 16’000 Mann Dienst in der Fortifikation Murten. Danach geht der Bestand massiv zurück. Von Oktober 1914 bis Ende 1917 ist die Fortifikation mit durchschnittlich 2000 Mann besetzt. Rund zwei Drittel aller schweizerischen Truppen leisten mindestens einmal Dienst in einer Fortifikation.
Befestigungsanlage in der Region Hauenstein.
Befestigungsanlage in der Region Hauenstein. Wikimedia / Schweizerisches Bundesarchiv
Nach Annäherungen zwischen Frankreich und der Schweiz befiehlt die Armeeführung im August 1917 einen Baustopp für die Fortifikation Murten. Bis dahin sind etwa 17’000 Meter Schützengräben, gedeckte Schutzplätze für 6000 Mann, über 200 teils verbunkerte Maschinengewehrstellungen, 40 Stellungen für Geschütze sowie 14 Artilleriebatterien entstanden.

Befesti­gung entlang der Sprachgrenze

Wenn auch die militärgeografischen Bedingungen den Verlauf der Fortifikation Murten diktierten, so fällt gleichwohl auf, dass die Sprachgrenze zwischen der deutschen und französischen Schweiz praktisch identisch wie die Verteidigungslinie Fortifikation Murten verläuft. Dies ist politisch problematisch. Insbesondere in den ersten Kriegsjahren sind die beiden Landesteile durch die gegenläufige Parteinahme für die Kriegsparteien getrennt. In der französischsprachigen Schweiz gelten die Sympathien eher Frankreich, in der Deutschschweiz Deutschland. Die Schweiz befindet sich in einer ihrer grössten innerstaatlichen Krisen. Angeheizt wird diese zusätzlich durch massive Propaganda-Aktionen der beiden Kriegsparteien auf Schweizer Boden. Um die Spaltung zu beschreiben, wird zu Beginn des Krieges die Metapher des «Grabens» zu einem Bestandteil des Schweizer Politvokabulars. Der Begriff ist in zweierlei Hinsicht treffend. Einerseits markierte der Saane-Graben südlich der Fortifikation Murten mehr oder weniger die Sprachgrenze, anderseits verlaufen nun entlang der Sprachgrenze Schützengräben. Für die Bevölkerung sind die Anlagen gesperrt. Sonntagsspaziergänge im Wald sind nur noch eingeschränkt möglich. Die Presse darf in Bezug auf die Fortifikationen nur berichten, was das Pressekontrollbüro der Armee genehmigt. Bei Zuwiderhandlung drohen Geldbussen oder Zuchthaus. Dies erklärt vermutlich auch, warum die Lage der Befestigungen an der Sprachgrenze nie ein Thema in den Zeitungen wird.
Ein Verteidigungswall an der Sprachgrenze bei Gals. Links ist die Zihl erkennbar. Der Fluss markiert die Sprachgrenze zwischen Deutsch und Französisch.
Ein Verteidigungswall an der Sprachgrenze bei Gals. Links ist die Zihl erkennbar. Der Fluss markiert die Sprachgrenze zwischen Deutsch und Französisch. Wikimedia / Schweizerisches Bundesarchiv
Der Kommandant, der Stabschef, die Generalstabsoffiziere, der Artilleriechef und der Geniechef der Fortifikation Murten wohnen in der Deutschschweiz. Aus der Westschweiz stammen nur der Chefarzt, der Pferdearzt, der Trainchef und der Motorwagenoffizier. Die zentralen Funktionen sind nicht etwa mit in der Region verwurzelten Bernern, Freiburgern oder Waadtländern besetzt. Fortifikationschef Oberst Beat Heinrich Bolli (1858–1938) ist im Zivilleben Rechtsanwalt, politisiert als FDP-Ständerat und stammt aus Schaffhausen. Sein Übername: «Der kleine Hindenburg». Als Stabschef fungiert Eugen Bircher (1882-1956). Der ausgesprochene deutschfreundliche Aargauer praktizierte als Chirurg. Zusammengefasst: Das Kommando über die Befestigungen an der Sprachgrenze haben zwei Deutschschweizer mit ausgesprochenen Sympathien für die eine Kriegspartei.
Gruppenbild des Festungskommandos von Murten. In der Mitte Oberst Bolli (6. von rechts) und Stabschef Bircher (4. von rechts).
Gruppenbild des Festungskommandos von Murten. In der Mitte Oberst Bolli (6. von rechts) und Stabschef Bircher (4. von rechts). Wikimedia / Schweizerisches Bundesarchiv

Am Schlaf­platz zeigt sich die Hierarchie

Die Soldaten hausen nicht dauernd in den Befestigungsanlagen. Die vorhandenen Unterstände, Feldküchen und sanitären Anlagen bieten lediglich den Wachhabenden etwas Komfort. Während Offiziere wie Bolli und Bircher meist private Betten beim Dorfarzt, Pfarrer oder Notar beanspruchen, sind die Soldaten in Schulhäusern, Wirtshaussälen oder Ställen einquartiert und schlafen auf Stroh. Die noch starren gesellschaftlichen Hierarchien bleiben gewahrt. Der monotone Soldatenalltag in der Fortifikation gliedert sich in drei Haupttätigkeiten: Drill und soldatische Ausbildung, Wachtdienst sowie Befestigungsarbeiten. Letztere wird von den Soldaten als «den Tschingg machen» bezeichnet. Der Ausdruck nimmt Bezug auf die italienischen Bauarbeiter, die beispielsweise als Mineure vor dem Krieg die schweizerische Eisenbahn-Infrastruktur mit aufgebaut haben. In der Fortifikation Murten leisten mehrheitlich über 30-Jährige der Landwehr Dienst. Oberst Bolli äussert im Ständerat die Meinung, dass die Landwehr «das beste Soldatenmaterial sei, das wir besässen». Die Wortwahl verrät einiges über das Menschenbild der damaligen Offiziere. Der Führungsstil orientiert sich an der deutschen Wehrkultur, setzt auf ausgeprägte Hierarchien und führt zu einer verbreiteten Dienstverdrossenheit. Der Betrieb ist nur selten menschenorientiert und situationsgerecht gestaltet. Bei bescheidenem Sold leisten die Wehrmänner durchschnittlich 500 Tage Dienst. Eine Erwerbsausfallentschädigung existiert noch nicht. Zahlreiche Soldaten und deren Familien werden damit akut von Armut bedroht, wobei die schlechte Wirtschafts- und Versorgungslage das Problem noch verstärkt. Der Krieg endet in der Schweiz 1918 mit dem Landesstreik.
Ein Soldat bewacht den Rohbau der Fortifikation Murten. Das Bild entstand wahrscheinlich Ende 1914.
Ein Soldat bewacht den Rohbau der Fortifikation Murten. Das Bild entstand wahrscheinlich Ende 1914. Wikimedia / Schweizerisches Bundesarchiv
Ein mit Wellblech verstärkter Unterstand im Stützpunkt Ausserfeld bei Jeuss. Hier konnten sich die Soldaten verpflegen oder nach der Wachablösung ausruhen.
Ein mit Wellblech verstärkter Unterstand im Stützpunkt Ausserfeld bei Jeuss. Hier konnten sich die Soldaten verpflegen oder nach der Wachablösung ausruhen. Wikimedia / Schweizerisches Bundesarchiv
Nach Kriegsende liquidiert die Armee die Feldbefestigungen der Fortifikation Murten. Bauunternehmen und Gefängnisinsassen übernehmen den Rückbau. Werke auf Kulturland werden aufgelöst, Stellungen im Wald geräumt und zugeschüttet. Die belassenen Anlagen geraten einige Jahrzehnte in Vergessenheit. Dann, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, erinnert man sich wieder daran, doch der Armeeführung sind 1939 weder Standorte noch Zustand der alten Bunker bekannt. Angehörige der Abteilung für Genie müssen die Befestigungsbauten im Gelände aufsuchen, neu kartieren und über deren Zustand Bericht nach Bern erstatten. In den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs entstehen im selben Raum mehrere Sperrstellen gegen Panzer. Einige Bunker der Fortifikation Murten werden in die neue Verteidigungslinie integriert. Lautete die Losung 1914-1918 noch, den Feind aufzuhalten, dienen die Sperrstellen nun dem Verzögerungskampf und sollen den Rückzug der Armee ins Réduit decken.
Ein Kehlgraben mit betonierten Unterständen. Viele Feldbefestigungen wurden nach dem Krieg rückgebaut oder zugeschüttet.
Ein Kehlgraben mit betonierten Unterständen. Viele Feldbefestigungen wurden nach dem Krieg rückgebaut oder zugeschüttet. Wikimedia / Schweizerisches Bundesarchiv
In Waldgebieten sind viele Bunker, Unterstände und Stollen aus dem Ersten Weltkrieg erhalten geblieben. Vielerorts ist im Gelände auch noch der Verlauf der einstigen Schützengräben nachvollziehbar. Ein Verein kümmert sich um den Erhalt von ausgewählten Anlagen. Die Qualität von Baudenkmälern haben die Bauten insbesondere dort, wo sich eine Festungskontinuität nachvollziehen lässt. In Erlach etwa liegen das historische Schloss, Bauten der Fortifikation Murten sowie die Sperrstelle aus dem Zweiten Weltkrieg unweit auseinander.
Was blieb, war die Erinnerung. Wie dieser Stich von Karl Hänny mit dem Schloss Erlach im Hintergrund. Wahrscheinlich wurde davon Drucke gemacht und an die Truppen verteilt.
Was blieb, war die Erinnerung. Wie dieser Stich von Karl Hänny mit dem Schloss Erlach im Hintergrund. Wahrscheinlich wurde davon Drucke gemacht und an die Truppen verteilt. Privatsammlung Juri Jaquemet

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