Maurice Koechlins Bauten sind weltbekannte Wahrzeichen geworden. Animation von Klaas Kaat.

Der Schweizer «Magier des Eisens»

Der Ingenieur Maurice Koechlin hat Ikonen der Ingenieurskunst geschaffen. Er konstruierte die Freiheitsstatue, den Eiffelturm und zahlreiche Brücken. Doch den Ruhm ernteten andere.

Helmut Stalder

Helmut Stalder

Helmut Stalder ist Historiker, Publizist und Buchautor mit Schwerpunkt Wirtschafts-, Verkehrs- und Technikgeschichte.

Maurice Koechlin gehört zu den Menschen, die hinter ihrem Werk verschwunden sind. Dass dieser talentierte französisch-schweizerische Ingenieur massgeblich an der Konstruktion der Freiheitsstatue, des Eiffelturms und des Garabit-Viadukts beteiligt war, wissen nur wenige.

Karl Culmanns Muster­schü­ler in Graphi­scher Statik

Geboren wurde Maurice Koechlin 1856 im elsässischen Buhl in eine Industriellenfamilie. Die Koechlins stammten ursprünglich aus Stein am Rhein und hatten sich über Zürich und Basel ins Elsass verbreitet. Als im deutsch-französischen Krieg das Elsass unter preussische Herrschaft kam, schickte der Vater Maurice 1873 nach Zürich an die ETH (damals noch Polytechnikum), wo er Ingenieurwesen studierte. 1876 erwarb Maurice Koechlin das Zürcher und damit auch das Schweizer Bürgerrecht. Einer seiner wichtigsten Professoren und Förderer war Karl Culmann, der Erfinder der Graphischen Statik. Dieses neue, zeichnerische Verfahren dient dazu, die Statik in Balken- und Fachwerkkonstruktionen zu berechnen. Das Verfahren erlebte einen Aufschwung, besonders beim Bau von Eisenbahnbrücken. Koechlin war Culmanns talentiertester Schüler und beendete sein Studium 1877 als Jahrgangsbester.
Maurice Koechlins Vater führte eine Spinnerei und eine Tuchfabrik, sodass Maurice früh die Anforderungen des Industriezeitalters kennenlernte. Foto um 1876.
Maurice Koechlins Vater führte eine Spinnerei und eine Tuchfabrik, sodass Maurice früh die Anforderungen des Industriezeitalters kennenlernte. Foto um 1876. e-pics

Gustave Eiffel holt das Supertalent

So ausgerüstet zog Koechlin nach Frankreich und arbeitete als Ingenieur für die Ostbahn. Frankreich erlebte eine Blütezeit im Ingenieurwesen und die treibende Kraft war der Ingenieur Gustave Eiffel, der mit seinem Unternehmen dick im Geschäft mit Eisenbahnbrücken war. 1877 wurde der Ponte Maria de Pio über den Douro in Portugal eröffnet. Entworfen hatte sie Eiffels leitender Ingenieur und Teilhaber Théophile Seyrig. Danach wurde Eiffel der Bau einer typgleichen Brücke in der Auvergne angetragen, das Garabit-Viadukt über die Truyère. Ingenieur Seyrig wollte jedoch finanziell stärker beteiligt werden und mehr von der öffentlichen Reputation erhalten, die Eiffel meist geschickt auf sich selbst lenkte. Es kam zum Streit und Eiffel setzte Seyrig vor die Tür. Nun suchte er einen fähigen Nachfolger. Er gelangte an Karl Culmann, der seinen besten Absolventen Maurice Koechlin empfahl. Im November 1879 begann der erst 23-Jährige als Chefingenieur des Büros Eiffel. Der Patron und er waren sehr unterschiedliche Charaktere, aber komplementär: Der ehrgeizige, extrovertierte Eiffel bewegte sich virtuos auf dem gesellschaftlichen Parkett, hatte politische Verbindungen, einen ausgeprägten Geschäftssinn und holte spektakuläre Projekte herein. Der zurückhaltende, öffentlichkeitsscheue Koechlin arbeitete im Hintergrund und löste die Aufgaben mit innovativen Ideen und technischer Raffinesse.
Maurice Koechlin (erster von links) und Gustave Eiffel (zweiter von links) unter dem Garabit-Viadukt.
Maurice Koechlin (erster von links) und Gustave Eiffel (zweiter von links) unter dem Garabit-Viadukt. Wikimedia
Das Garabit-Viadukt war Koechlins erstes Grossprojekt. Mit Emile Nouguier, dem auf Bauorganisation spezialisierten Ingenieur bei Eiffel, überarbeitete er die Vorgabe grundlegend, unter anderem mit einem parabel- statt kreisförmigen Bogen. Die Garabit-Brücke wurde 1884 errichtet.
Montage des Brückenbogens in schwindelerregender Höhe: Das Garabit-Viadukt war 122 Meter hoch und blieb 25 Jahr lang die höchste Eisenbahnbrücke der Welt. Heute gehört es zum UNESCO-Weltkulturerbe.
Montage des Brückenbogens in schwindelerregender Höhe: Das Garabit-Viadukt war 122 Meter hoch und blieb 25 Jahre lang die höchste Eisenbahnbrücke der Welt. Heute gehört es zum UNESCO-Weltkulturerbe. Wikimedia
Parallel dazu konzipierte Koechlin ein weiteres Viadukt in der Region Nouvelle-Aquitaine. Für diese Balkenbrücke über die Tardes entwickelte er einen engmaschigen Gitterträger statt des üblichen Kreuzstrebenfachwerks, der gut 100 Meter zwischen zwei gemauerten Pfeilern überspannte. Die Brücke wurde 1885 fertiggestellt und steht heute unter Denkmalschutz.

In Innern der Freiheitsstatue

Eiffel war aus einem weiteren Grund auf einen tüchtigen Chefingenieur angewiesen. Denn die Unternehmung erhielt damals das aufregendste Grossprojekt seiner Zeit – die Freiheitsstatue. Der französische Bildhauer Frédéric-Auguste Bartholdi war daran, die kolossale Statue La Liberté éclairant le monde zu fabrizieren, welche die Franzosen den USA im Gedenken an die Allianz im Unabhängigkeitskrieg schenken wollten. Einige Teile waren bereits gefertigt worden, noch bevor geklärt war, wie die 46 Meter hohe und 225 Tonnen schwere Figur aus gehämmerten Kupferplatten aufrecht gehalten werden sollte. Der beauftragte Architekt verstarb unerwartet, ohne Angaben dazu zu hinterlassen. Die Auftraggeber wandten sich darauf an Eiffel, der wiederum Koechlin mit der Aufgabe betraute. Wie für eine Brücke konzipierte der Ingenieur ein Tragwerk aus vier verstrebten Pfeilern und einer doppelläufigen Wendeltreppe sowie eine auskragende Fachwerkkonstruktion für den rechten Arm. Koechlin konzipierte keine starre Tragstruktur, sondern ein elastisches Gitterskelett. Diese Flexibilität war die entscheidende Idee, denn so konnte die darauf montierte Kupferhaut Temperaturschwankungen und wechselnden Windbelastungen widerstehen.
Die Konstruktion im Innern der Freiheitsstatue.
Die Freiheitsstatue wird errichtet.
«Lady Liberty» wurde ab 1881 auf dem Gelände der Giesserei in Paris probehalber errichtet und überragte während gut zweieinhalb Jahren die Gebäude der Umgebung. Mit ihren 93 Metern blieb sie bis 1959 die höchste Statue der Welt. Wikimedia
Lady Liberty wurde 1886 feierlich eingeweiht. Maurice Koechlin trat damals nicht ins Rampenlicht. Erst 1936 zum 50 Jahr-Jubiläum lobte die Presse den schüchternen Ingenieur für seinen entscheidenden Beitrag zum Meisterwerk.

Er skizziert den Turm am Stubentisch

Maurice Koechlins grösster Coup ist jedoch der Eiffelturm. Anfang 1884 wird bekannt, dass Frankreich zum Jubiläum der Französischen Revolution eine Weltausstellung ausrichten wird. Der damals 28-Jährige will etwas Gewaltiges schaffen. Er und Bürokollege Émile Nouguier denken aus eigenem Antrieb über ein Projekt nach, «um der Ausstellung eine Attraktion zu geben». Am 6. Juni 1884 sitzt Koechlin abends am Tisch in seiner Wohnung an der Rue Le Chatelier 11. Rasch und ohne technische Hilfsmittel skizziert er den Pylône de 300 m de hauteur. Der Skizze fügt er eine Berechnung der Vertikallasten und der horizontalen Windbelastung bei.
Um die Höhe zu verdeutlichen, stapelte Koechlin neben den Turm im Massstab 1:50 bekannte Bauwerke auf: Notre-Dame, Arc de Triomphe, Freiheitsstatue, die Säulen der Place Vendôme und Bastille, den Concorde-Obelisken, ein Stadtpalais. Das vergilbte Beweisstück für Koechlins Urheberschaft liegt heute im Archiv der ETH-Bibliothek in Zürich.
Um die Höhe zu verdeutlichen, stapelt Koechlin neben den Turm im Massstab 1:50 bekannte Bauwerke auf: Notre-Dame, Arc de Triomphe, Freiheitsstatue, die Säulen der Place Vendôme und Bastille, den Concorde-Obelisken, ein Stadtpalais. e-pics
Die nüchterne, technische Skizze zeigt die konischen Pfeiler, das Eisenfachwerk, sechs Etagen und flache Bögen an der untersten Etage. Konstruieren will Koechlin den Turm wie das Tragwerk der Freiheitsstatue, jedoch sichtbar. Das Fachwerk bietet dem Wind wenig Widerstand und erlaubt es, höher zu bauen als je zuvor. Sein Turm aus genietetem Eisen soll der höchste der Welt werden – ein Symbol des kraftstrotzenden Industriezeitalters mitten in Paris.

Eiffel zögert und schlägt dann zu

Die Ingenieure legen die Strukturzeichnung Eiffel vor. Dieser erklärt jedoch, «nicht die Absicht zu haben, sich dafür interessieren zu können», wie Koechlin in einem Résumé zur Urheberschaft festhält. Doch sie dürfen weiter daran arbeiten. Sie geben die Skizze dem Architekten Stephen Sauvestre zur ästhetischen Überarbeitung. Er reduziert die Zahl der Plattformen, fügt die statisch unnötigen, aber eleganten Halbrundbögen am Fuss, den Glaspalais der ersten Etage und die Kuppel an der Spitze hinzu. Diese architektonische Zeichnung trägt den Vermerk: «Gezeichnet von Nouguier, Koechlin, Sauvestre». Nun erkennt Eiffel das Potenzial. Er setzt seinen Namen unter jene der Ingenieure: «Présenté par G. Eiffel», heisst es nun auf dem Blatt. Eilends wird ein Patent angemeldet für das Konstruktionsverfahren, «das es erlaubt, Metallpfeiler von einer Höhe von 300 Metern zu errichten»; als Urheber zu gleichen Teilen werden Eiffel, Nouguier und Koechlin genannt.
Patentschrift für Koechlins Konstruktion: Brevet No. 164364, 18. September. 1884, unterzeichnet durch Koechlin, Nouguier und Eiffel.
Patentschrift für Koechlins Konstruktion: Brevet No. 164364, 18. September 1884, unterzeichnet von Koechlin, Nouguier und Eiffel. Google Arts & Culture
Eiffel kauft ihnen sofort die Eigentumsrechte ab. Jetzt darf er gemäss Vertrag das Projekt in seinem Namen realisieren, muss die Ingenieure aber als Initiatoren nennen. Er sagt ihnen als Honorar ein Prozent der Bausumme zu – je 51’418 Francs. «Danach verfolgte er mit der ihn auszeichnenden Hartnäckigkeit alles Notwendige, damit das Vorhaben angenommen und realisiert würde», hält Koechlin fest.

«Eine widerwär­ti­ge Säule»

Eiffel, der selbst nichts zum Entwurf beigetragen hat, verhilft dem Turm nun mit aller taktischen Schlauheit zum Durchbruch. Während Koechlin die Konstruktion en détail berechnet, polemisiert Eiffel gegen Konkurrenten. Er erwirkt, dass der Wettbewerb für ihn günstig ausgeschrieben wird. So wird verlangt: «Die Teilnehmenden müssen sich mit der Möglichkeit beschäftigen, auf dem Marsfeld einen Eisenturm mit quadratischem Grundriss, 125 Meter Seitenlänge und 300 Meter Höhe zu erreichten.» Prompt erhält das Büro Eiffel den Zuschlag. Doch es regt sich Widerstand gegen den Bau des «unnützen und missgestalteten Eiffelturms mitten im Herzen der Hauptstadt». Er sei «eine widerwärtige Säule aus verschraubtem Blech», der Paris wie ein riesiger und schwarzer Fabrikschornstein überrage und mit seiner barbarischen Masse alle Monumente demütige. Eiffel zieht das Vorhaben durch –und Koechlin berechnet mit rund zwei Dutzend Technikern gut 700 Gesamtpläne und 4000 Detailskizzen. Bei der Eröffnung im Mai 1889 ist die Begeisterung gross. «La tour Eiffel» steht nun für eine grandiose Leistung Gustave Eiffels.
Der Bau des Eiffelturms in einem grafischen Modell dargestellt. Youtube

«Die Idee und die Berech­nun­gen stammen von mir»

Eiffel erntete den Ruhm für den Turm und wurde damit weltberühmt. Koechlin äusserte jedoch nie Bedauern darüber und arbeitete weiter vertrauensvoll mit Eiffel zusammen. Als der Patron 1893 wegen seiner Verstrickung in den Panama-Skandal verurteilt wurde, übernahm Koechlin die Leitung der Eiffel & Cie. und später auch den Vorsitz der Eiffelturm-Gesellschaft. 1890 wurde er Offizier der französischen Ehrenlegion, 1903 erhielt er goldene Medaille der französischen Ingenieur-Vereinigung und 1929 wurde er Ehrenmitglied der Gesellschaft ehemaliger Polytechniker der ETH Zürich. Die Anerkennung beschränkte sich jedoch auf Fachkreise, zu dominant war der Name Gustave Eiffel. Erst 1939, zum 50. Jubiläum des Turms, rief Koechlin seine Urheberschaft in Erinnerung. Einem Journalisten sagte er: «Der Vater des Turms ist Eiffel. Aber die Idee und die Berechnungen stammen von mir.»
Postkarte aus dem Jahr 1939: Zur 50-Jahr-Feier des Eiffelturms wurde erstmals Koechlins Konstruktionsskizze veröffentlicht.
Postkarte aus dem Jahr 1939: Zur 50-Jahr-Feier des Eiffelturms wurde erstmals Koechlins Konstruktionsskizze veröffentlicht. 1900lartnouveau.com
Koechlin wusste, dass ohne Eiffels Einsatz der Turm nie gebaut worden wäre. Aber er wusste auch, dass Eiffel das moderne Weltwunder ohne ihn nicht hätte bauen können. Seinen Lebensabend verbrachte Koechlin mit seiner aus Vevey stammenden Frau Emma Rossier in Veytaux am Genfersee, wo er 1900 ein Haus gebaut hatte. 1946 starb er 90-jährig und wurde in Vevey beerdigt. Gustave Eiffel wurde dank des Eiffelturms als «Magier des Eisens» weltberühmt. An Maurice Koechlin erinnern ein Wachsfiguren-Kabinett im Eiffelturm, ein kleines Denkmal und eine Primarschule in Buhl sowie drei Strassen in französischen Dörfern. In der Schweiz hingegen gibt es kein Denkmal für den Schweizer «Magier des Eisens», das Genie in Eiffels Schatten.

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