Wer hat's erfunden? Wahrscheinlich russische Soldaten. Und wer hat's in die Welt getragen? Ganz sicher ein Bieler Schriftsteller. Die Geschichte des russischen Roulettes.
Georges Surdez wurde 1900 in eine frankophone Bieler Mittelklassefamilie hineingeboren. Sein Vater, Eugène, war Uhrmacher, während seine Mutter, Marie, sich um den Haushalt und die Kinder kümmerte. Sie hatte eine mystische Seite, die sie auslebte, indem sie den Nachbarn die Tarotkarten las. Georges wuchs mit drei älteren Schwestern – eine von ihnen kam bei einem Schlittelunfall ums Leben – sowie einem älteren und einem jüngeren Bruder auf. Der ältere Bruder starb später durch einen Sturz von einem Baum.
Zwei seiner Geschwister, ein Bruder und eine Schwester, waren bereits erwachsen und lebten in den USA. Georges las als Kind gerne Bücher über Wilhelm Tell und die Schweizergeschichte, aber auch über das Leben Napoleons, die französische Fremdenlegion sowie amerikanische Abenteuergeschichten.
Als Georges zwölf Jahre alt war, zog die Familie in die Vereinigten Staaten, wo Eugène, der als Uhrmacher unglücklich war, in jungen Jahren bereits einmal gelebt hatte. In New York, das Biel als Wohnort ablöste, war Georges der Fremde und wurde von seinen Mitschülern, wie man heute sagen würde, gemobbt. Er wurde etwa als «dreckiger Schweizer» beschimpft. Mit 16 Jahren verliess er die Schule. Im Alter von 19 wanderte er nach Afrika aus und lebte in der damals noch französischen Kolonie Côte d’Ivoire. Von dort aus unternahm er Reisen in andere Länder des Kontinents, unter anderem nach Marokko und in den Sudan.Zurück in New York entdeckte er zwei Dinge, die sein Leben prägen sollten: Zum einen, dass man mit Abenteuergeschichten, wie er sie in seiner Jugend geliebt hatte, gutes Geld verdienen konnte, und zum anderen, dass er das Talent besass, solche Geschichten selbst zu schreiben. Diese Kurzgeschichten wurden von Magazinen wie Adventure in Auftrag gegeben und publiziert. Dieses Magazin wurde zu seinem Hauptabnehmer, der mehr als 100 seiner Texte veröffentlichte. Ab 1922 schrieb er zunächst in seiner Freizeit und später hauptberuflich. Seine frühen Texte waren hauptsächlich Krimis, darunter auch eine Liebesgeschichte, die in Afrika spielte.
1927 wurde diese Liebesgeschichte von der Produktionsfirma eines gewissen Joseph Kennedy – dem Vater des späteren US-Präsidenten – verfilmt. 1928 nahm Surdez die amerikanische Staatsbürgerschaft an, ermutigt von seiner 1922 geheirateten Frau Edith, die deutlich älter war als er. Sie, eine Lehrerin, schien zunächst kein Problem damit zu haben, dass ihr Mann sogenannte Schundliteratur produzierte. 1943 verliess sie ihn jedoch für einen anderen Mann.Fasziniert war Surdez auch von der Welt der Fremdenlegion, jener französischen Elitearmee, in der Abenteurer aus aller Herren Länder als Söldner Dienst taten und immer noch tun. In dieser Welt spielt auch Russian Roulette, jene Erzählung, die ihm einen gewissen Ruhm einbrachte. Sie erschien am 30. Januar 1937 im Collier’s Illustrated Weekly, einem populären Wochenmagazin.
Die Geschichte handelt von einer in Nordafrika stationierten Einheit der Fremdenlegion. Hauptfiguren sind der spielsüchtige Russe Sergeant Burkowski und der deutsche Sergeant Feldheim, der versucht, Burkowski von seiner Sucht abzubringen. Doch Burkowski spielt nicht nur um Geld, sondern auch mit seinem Leben. Er überlebt mehrere Runden russisches Roulette, jagt sich jedoch schliesslich absichtlich eine Kugel in den Kopf und stirbt. In der Erzählung behauptet Burkowski, das Spiel sei 1917 von russischen Offizieren in Rumänien erfunden worden – in den letzten Tagen der russischen Teilnahme am Ersten Weltkrieg, als die Armee des Zaren demoralisiert auf dem Rückzug war. Das Spiel hätte somit einen realen Hintergrund – zumindest einen plausiblen.
Russisches Roulette
Beim russischen Roulette wird nur eine Patrone in die Trommel eines Revolvers gesteckt und diese dann gedreht. So weiss man nicht, wo sich die Kugel befindet. Im Normalfall hat ein Revolver sechs Kammern, also Platz für sechs Patronen. Nun hält sich die Spielerin oder der Spieler den Revolver an die Schläfe und drückt ab.
Hatte das russische Roulette tatsächlich ein Vorbild in der Realität oder war es nur gut erfunden? Zwar gibt es Hinweise, dass das gefährliche Spiel innerhalb der russischen Armee eine lange Tradition hatte und bereits 1917 gespielt worden sein könnte. Beweisen lässt sich dies aber nicht. Klar ist hingegen, dass die erste schriftliche Erwähnung auf den Bieler Georges Surdez und seine Erzählung von 1937 zurückgeht. Dies bestätigt auch der Oxford English Dictionary, das bedeutendste Wörterbuch der englischen Sprache.
Spätestens nach Surdez’ Erzählung wurde Russisch Roulette Realität. So starb 1954 beispielsweise der amerikanische Rhythm-and-Blues-Sänger Johnny Ace bei diesem Spiel. Auch im allgemeinen Sprachgebrauch fand der Begriff Eingang und wird heute oft als Synonym für ein «Vorhaben mit hohem Risiko» verwendet – etwa wenn UNO-Generalsekretär António Guterres im Juni 2024 davon spricht, «Russisches Roulette mit unserem Planeten zu spielen».
Georges Surdez selbst starb übrigens 1949 eines natürlichen Todes.
Dieser Artikel wurde vom Bieler Tagblatt übernommen. Er ist dort am 9. Oktober 2017 unter dem Titel «Dem Bieler, der Russisch Roulette bekannt gemacht hat, auf der Spur» in einer ausführlicheren Version erschienen.
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