Marie Colinet war nicht nur eine geschickte Hebamme, sondern auch eine erfinderische Ärztin. Illustration von Marco Heer.
Marie Colinet war nicht nur eine geschickte Hebamme, sondern auch eine erfinderische Ärztin. Illustration von Marco Heer.

Die berühm­tes­te Hebamme der Schweiz

Marie Colinet, eine Genferin und Pionierin der Medizin, schrieb im 16. Jahrhundert Geschichte. Als Hebamme und Ärztin führte sie innovative Verfahren ein – darunter den ersten erfolgreichen Kaiserschnitt der Schweiz.

Christophe Vuilleumier

Christophe Vuilleumier

Christophe Vuilleumier ist Historiker und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte. Er hat verschiedene Beiträge zur Schweizer Geschichte des 17. und 20. Jahrhunderts publiziert.

Im 16. Jahrhundert, als Frauen in der Medizin kaum ein Mitspracherecht hatten und ihre Leistungen oft übersehen wurden, stieg Marie Colinet wie ein Komet am Himmel der medizinischen Welt auf. Sie war nicht nur Hebamme, sondern eine unerschrockene Pionierin, die mit Mut, Verstand und Einfallsreichtum den Grundstein für einige moderne medizinische Verfahren legte. Marie Colinet wurde um 1560 in Genf geboren. Ihre Familie hatte für sie eine klassische Rolle vorgesehen: Marie sollte Hebamme werden. Doch sie wollte mehr. Viel mehr. 1587 begegnete sie dem Chirurgen Guillaume Fabri, was ihr Leben und ihre Karriere grundlegend veränderte. Mit Fabri, einem der bekanntesten Mediziner dieser Zeit, verband sie nicht nur die Liebe, sondern auch eine Vision: Medizin zu schaffen, die Leben rettet, auch wenn es noch so riskant ist.
Porträt von Guillaume Fabri, auch bekannt als Wilhelm Fabry.
Porträt von Guillaume Fabri, auch bekannt als Wilhelm Fabry. Wikimedia
Ihr Ehemann brachte ihr die Grundlagen der Chirurgie bei – von der Behandlung von Knochenbrüchen bis hin zu komplizierten Operationen. Doch es war Marie, die bald mit eigenen Ideen vorpreschte. Ihre revolutionärste Vision: Die Geburtshilfe neu zu denken. Bei Kaiserschnitten, die damals fast sicher den Tod der Mutter bedeuteten, wagte sie neue Ansätze. Marie hatte die bahnbrechende Idee, die Gebärmutter während der Geburt durch Wärme zu stimulieren. Guillaume zögerte zunächst, doch die Überzeugungskraft der Genferin und ihr scharfer Verstand setzten sich durch. 1603 kam schliesslich der grosse Durchbruch: Marie führte ihren ersten Kaiserschnitt in Payerne (VD) durch – und schaffte es, sowohl Mutter als auch Kind zu retten. Eine Sensation, die sich wie ein Lauffeuer verbreitete. Plötzlich kannte ganz Europa ihren Namen. Marie Colinet, die «berühmteste Hebamme der Schweiz», war geboren.
Darstellung eines Kaiserschnitts im Buch Suetonius’ Lives of the Twelve Caesars, 1506.
Darstellung eines Kaiserschnitts im Buch Suetonius’ Lives of the Twelve Caesars, 1506. akg-images / Universal Images Group
Doch Marie Colinet blieb nicht bei der Geburtshilfe stehen. Ihre medizinische Neugier und ihr praktischer Verstand führten sie in alle Bereiche der Medizin. Einmal behandelte sie einen Mann mit gebrochenen Rippen – und tat, was zuvor niemand gewagt hatte: Sie öffnete die Brust, band die Knochenfragmente ab und heilte die Wunde mit einer selbst entwickelten Mischung aus Rosenöl, Gerste, Granatapfelblüten und rohen Eiern. Selbst Guillaume, der diese Methode später in einem Buch beschrieb, staunte über das Können seiner Frau. Ihren vielleicht kühnsten Einfall hatte Colinet 1624: Sie zog einem Patienten mit Hilfe eines Magneten einen Eisensplitter aus dem Auge. In einer Zeit, in der die meisten Ärzte noch an Aderlass und Blutegel glaubten, bewies sie damit nicht nur Genialität, sondern auch die Entschlossenheit, ein Risiko einzugehen und etwas Neues zu versuchen.
Abbildung aus dem Buch "Der Swangern frawen vnd hebammen roszgarten" von Eucharius Rösslin, 1513.
Marie Colinet startete als Hebamme und wurde eine der einflussreichsten Ärztinnen ihrer Zeit. Wikimedia
Doch das Leben von Marie und Guillaume war nicht nur von medizinischen Triumphen geprägt. Der Dreissigjährige Krieg, der Europa erschütterte, machte das Leben des protestantischen Ehepaars unsicher. Sie zogen mehrmals um und liessen sich schliesslich im ihrer Ansicht nach sicheren Bern nieder. Guillaume starb 1634, doch Marie blieb bis zu ihrem eigenen Tod 1638 eine unvergleichliche Figur der Medizin. Sie, die sich den damals geltenden Regeln widersetzte, die Grenzen sprengte und vielen Männern zeigte, dass auch Frauen in der Wissenschaft an vorderster Front stehen können, wurde 78 Jahre alt. Marie Colinet war mehr als nur eine Ärztin und Hebamme – sie war eine Revolutionärin, die mit einem Magneten, einer Salbenmischung und einer unerschütterlichen Überzeugung die Medizin nachhaltig veränderte. Ihr Name mag heute weniger bekannt sein als der ihres Mannes, doch ihre Leistungen sind ein Denkmal für das, was Frauen erreichen können, wenn sie an sich glauben.

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