Die «Ekeko»-Figur bei ihrer Restitution in Bolivien 2014.
Die «Ekeko»-Figur bei ihrer Restitution in Bolivien 2014. Keystone

Die lange Reise des «Ekeko»

Im Jahr 1858 eignete sich der Schweizer Naturforscher Johann Jakob von Tschudi in Bolivien unrechtmässig die sogenannte «Ekeko»-Figur an. 150 Jahre später wurde die Skulptur an Bolivien zurückgegeben. Dieses bedeutende Ereignis widerspiegelt den Umgang der Schweiz mit ihrem kolonialen Erbe.

Tomás Bartoletti

Tomás Bartoletti

Tomás Bartoletti ist Dozent am Lehrstuhl für Geschichte der modernen Welt an der ETH Zürich.

Im November 2014 verliess eine Skulptur im Stil der Pucara, die mit der Gottheit «Ekeko» in Verbindung gebracht wird, das Historische Museum Bern und die Schweiz, um an ihren Ursprungsort in Bolivien zurückzukehren. Die Figur befand sich seit 1929 in der Schweizer Hauptstadt. Damals erwarb das Museum sie zusammen mit anderen Artefakten sowie menschlichen Überresten aus der Sammlung des Naturforschers Johann Jakob von Tschudi (1818-1889). Die erste transatlantische Reise der «Ekeko»-Skulptur fand 1858 statt, als er sie von der heiligen Stätte von Tiwanaku entfernte. Mehr als 150 Jahre später wurde die Skulptur schliesslich dem Nationalen Museum für Archäologie in La Paz zurückgegeben.
Aquarellporträt von Johann Jakob von Tschudi.
Aquarellporträt von Johann Jakob von Tschudi. Museum des Landes Glarus, Inv.-Nr. 06226

Entmys­ti­fi­zie­rung des «grossen Mannes der Wissenschaft»

Johann Jakob von Tschudi, geboren 1818 in Glarus, war ein Naturforscher und Diplomat, der zwischen 1838 und 1861 drei ausgedehnte Reisen nach Südamerika unternahm. Wie viele Entdecker seiner Zeit widmete er einen grossen Teil seiner Reisen dem Sammeln von Tieren, Pflanzen, Mineralien, kulturellen Artefakten und sogar menschlichen Überresten. So erlegte Tschudi auf seiner ersten Reise nach Peru zwischen 1838 und 1842 zahllose Tiere, die er ausstopfte und an das Naturhistorische Museum in Neuenburg schickte. Auch archäologische Artefakte und menschliche Überreste werden bis heute in Schweizer und Europäischen Institutionen aufbewahrt. Für Tschudi und andere Wissenschaftler seiner Zeit bedeutete das Sammeln ein Mittel zur Anhäufung von materiellem und symbolischem Kapital. Das zeigt sich im Umfang ihrer Forschungen und in ihrem Eifer bei der Auswahl von Objekten mit wissenschaftlichem und ästhetischem Wert. Die Veröffentlichung von Büchern über diese Sammlungen stärkte ihren sozialen Status als «grosse Männer der Wissenschaft» und ermöglichte es ihnen, einem grösseren europäischen Publikum von ihren Abenteuern und Heldentaten zu berichten. Tschudis umfangreiche Sammlungen und seine zahlreichen Publikationen zu Themen wie Zoologie, Linguistik, Ethnografie und Archäologie sind beispielhaft für das koloniale Erbe der Expeditionen eines Schweizer Naturforschers durch Südamerika.
Frontspitz des Buches «Reise durch Südamerika», 1869.
Frontspitz des Buches «Reise durch Südamerika», 1869. Tomás Bartoletti
Die Episode, wie Tschudi sich den «Ekeko» aneignete, erzählt er im fünften Band seines Buches Reise durch Südamerika (1869). Das Buch dokumentiert seine zweite und dritte Reise durch Brasilien, Argentinien, Chile und Bolivien sowie seine Rolle als Diplomat im Konflikt der Schweizer Kolonialsiedler in Brasilien. Die Art und Weise wie Tschudi seine Reisen beschreibt, offenbart seine rassistischen Vorurteile gegenüber der afroamerikanischen und indigenen Bevölkerung Brasiliens. Dieser Kontext ist entscheidend für das Verständnis der unrechtmässigen Aneignung der Skulptur im Pucara-Stil. Tschudis detaillierte Beschreibung des Werks sowie zwei Abbildungen dienten als entscheidende Indizien für die Identifizierung des «Ekeko» im Bernischen Historischen Museum und ermöglichten es Bolivien, seinen Restitutionsanspruch zu erheben. Bei der Beschreibung seines Erwerbs des «Ekeko» erkannte Tschudi selbst den heiligen Wert an, den sie für die indigenen Völker hatte, und verglich sie sogar mit einer katholischen Heiligenfigur. Er beobachtete, wie man der Figur regelmässig Opfergaben darbrachte und ihr zu Ehren Kerzen anzündete. Tschudi erkannte die kulturelle und kommerzielle Anziehungskraft, die solche Objekte in Europa ausübten und bekundete sein Interesse, die Skulptur zu erwerben. Berichten zufolge übergaben die Indigenen den «Ekeko» nur widerwillig und unter dem Einfluss von Cognac sowie dem anhaltenden Druck von Tschudis offizieller Eskorte. Nach der Übergabe, die offenbar stattfand, als Tschudi bereits wieder im Sattel sass, machte er sich mit seiner Eskorte schnell aus dem Staub. Eine Gruppe von Indigenen verfolgte sie und versuchte erfolglos, sie einzuholen. Diese Schilderung zeigt, wie beunruhigend und verstörend Tschudis Handeln für die Indigenen gewesen war.
Tschudi mit seinen Objekten. Abbildung im Buch «Reise durch Südamerika», 1869.
Tschudi mit seinen Objekten. Abbildung im Buch «Reise durch Südamerika», 1869. Tomás Bartoletti
Ein kritischer Blick erkennt, dass diese Belege nur Tschudis Perspektive wiedergeben. Die Erzählung versucht einerseits, sein Handeln rückblickend zu rechtfertigen und andererseits seinen «heldenhaften» Mut gegenüber den indigenen «Säufern» zu betonen. Liest man weitere Berichte und Dokumente von Tschudi, reiht sich die Aneignung des «Ekeko» in eine lange Liste von Erzählungen ein, in denen sich Tschudi brüstet, Gegenstände aller Art zu sammeln, Tiere auf indigenem Land zu jagen, menschliche Überreste aus Grabstätten zu plündern und kulturell wertvolle Gegenstände in Transaktionen von zweifelhaftem Konsens zu «kaufen». Tschudi rechtfertigte seine Handlungen im Namen der Wissenschaft und des Wissensfortschritts. Später verkaufte er diese Objekte in europäischen Museen und veröffentlichte Berichte über seine Reisen, um seine Vorstellungen von der europäischen Überlegenheit zu verbreiten. In Tschudis wie auch in anderen Fällen beruhte dieses Bild des «grossen Mannes der Wissenschaft» auf Akten physischer und symbolischer Gewalt gegen das kulturelle und natürliche Erbe Südamerikas.
Zeichnung der «Ekeko»-Figur im Buch «Reise durch Südamerika», 1869.
Zeichnung der «Ekeko»-Figur im Buch «Reise durch Südamerika», 1869. Tomás Bartoletti

Die Kontro­ver­se um die Rückgabe des «Ekeko»

Die von Tschudi mitgebrachte Skulptur war viele Jahre lang im Bernischen Historischen Museum ausgestellt. Ab 2006 fanden tiefgreifenden Veränderungen in der bolivianischen Gesellschaft statt. Unter der Führung des indigenen Führers Evo Morales wurden soziale Reformen eingeleitet, darunter die Aufwertung der indigenen Kulturen des Landes und die Suche nach dem bolivianischen Kulturerbe im Ausland. Elizabeth Salguero Carrillo, die zwischen 2012 und 2016 als bolivianische Diplomatin in Deutschland tätig war, entdeckte den «Ekeko» in Bern wieder und leitete Restitutionsverhandlungen ein. Als Elizabeth Salguero Carrillo 2012 das Bernische Historische Museum besuchte, standen die heiklen Fragen rund um die Provenienz von Sammlungen in europäischen Museen noch nicht so im Fokus der Aufmerksamkeit wie in den letzten Jahren. In der Schweiz wurde die Bedeutung der Provenienzforschung in den Museen erst im Jahr 2020 formalisiert. Trotz der von Tschudi selbst veröffentlichten Beweise stand die damalige Leitung des Bernischen Historischen Museums dem bolivianischen Rückgabeanspruch skeptisch gegenüber. Man stellte sich auf den Standpunkt, dass es sich bei der Skulptur im Pucara-Stil nicht wirklich um einen «Ekeko» handle. Dabei wurde nur die westliche wissenschaftliche Sicht als gültig betrachtet. Demgegenüber begründete sich der bolivianische Anspruch nicht nur mit der Tatsache, dass Tschudi sich dieses Stück 1858 ausdrücklich von einem heiligen Ort wie Tiwanaku angeeignet hatte, sondern auch mit dem tatsächlichen kulturellen Wert des Stücks, das als Repräsentant dessen angesehen wurde, was in Bolivien heute allgemein als «Ekeko» bekannt ist. Diese Gottheit, die als Gott des Überflusses gilt, wird während der Feierlichkeiten der Alasitas geehrt. Die UNESCO hat das Fest der Alasitas im Jahr 2011 als Teil des kulturellen und immateriellen Erbes der Menschheit nominiert. Obwohl die in Bern aufbewahrte Skulptur nicht dieselbe Figur wie die zeitgenössischen Ekekos darstellt, repräsentiert sie aus bolivianischer Sicht aber den Geist des zeitgenössischen Ekeko. In diesem Sinne kann das alte Stück als Repräsentant seines Vorgängers gesehen werden, was der Figur eine grosse kulturelle Bedeutung verleiht.
Die «Ekeko»-Figur aus Bolivien.
Die «Ekeko»-Figur aus Bolivien. Bernisches Historisches Museum
Im Kontext der öffentlichen Debatte in Bern stimmte das Kantonsparlament mit 117 Ja- zu 10 Nein-Stimmen einem Postulat zu, das den Berner Regierungsrat beauftragte, die Rückführung der Figur zu unterstützen. Das Votum stützte sich auf die Tatsache, dass die Statue für Bolivien von weitaus grösserer kultureller Bedeutung ist, als sie es für Bern je war. Das Parlament verwies auch auf den rechtlichen und ethischen Rahmen, den der Internationale Museumsrat vorgibt, wonach der «Ekeko» im Falle solcher Ansprüche zurückgegeben werden sollte. Trotzdem zögerte das Bernische Historische Museum und beschuldigte den bolivianischen Staat, die Figur falsch identifiziert zu haben und hauptsächlich politisch motiviert zu sein. Weiterhin knüpfte das Bernische Historische Museum eine Restitution an gewisse Bedingungen. Anstatt die vollständige Souveränität über den «Ekeko» an den bolivianischen Staat zu übertragen, bot das Bernische Historische Museum einen Vertrag mit «gemeinsamem Erbe» an, was bedeutet, dass Bern die Skulptur möglicherweise zurückerhalten oder besondere Bedingungen für ihre Rückgabe und weitere Ausstellung in Bolivien festlegen könnte. Als der «Ekeko» nach Bolivien zurückkehrte, fand eine grosse Feier im Rahmen der Alasitas statt, und die Skulptur reiste durch La Paz, um von der Bevölkerung geehrt zu werden. Entgegen den vom Bernischen Historischen Museum aufgestellten Bedingungen stand die Figur nicht wie vereinbart unter Denkmalschutz. Einmal mehr drängte das Museum darauf, ihre besondere Beziehung zu diesem materiellen Objekt in den Vordergrund zu stellen, indem sie für die wissenschaftliche Erhaltung der Statue plädierte, während sie die kulturelle Bedeutung und die Lebenspraktiken, die mit der Figur in Bolivien verbunden sind, ausser Acht liess. Die bolivianische Diplomatin Elizabeth Salguero Carrillo reagierte auf die Kritik: «Für Bolivien ist der Ekeko ein heiliges Stück. Wir sind nicht nur eine Museumskultur. Bolivien ist ein Land der lebendigen Kulturen, für die der Kontakt mit ihren heiligen Gegenständen von grundlegender Bedeutung ist.»
Bericht zur Rückkehr des «Ekeko» nach Bolivien, 2014. swissinfo.ch
Seit der Rückkehr des «Ekeko» im Jahr 2014 haben sich sowohl in Bern als auch in Bolivien bedeutende Veränderungen vollzogen. Das Bernische Historische Museum, wie auch andere Schweizer Museen und Sammlungen, arbeiten mit Partnern in Afrika, Ozeanien und Südamerika zusammen. Anstatt Vereinbarungen durchzusetzen, die nur von westlichen Vorstellungen von Wissenschaft und Kulturerbe geprägt sind, versuchen diese Initiativen, Bedingungen zu schaffen, die eine Neubewertung solcher Sammlungen ermöglichen. In Bolivien haben die jüngsten politischen Unruhen die kulturelle Landschaft geprägt. Dennoch wird der Ekeko seit seiner Rückkehr jedes Jahr im Januar während des Alasitas-Festes gefeiert. Der Geist des Ekeko ist in Bolivien vollständig wiederbelebt worden. Das Gespenst des Ekeko verweilt noch immer im kulturellen Gedächtnis der Schweizer Museen und wirft die Frage auf, was sonst noch in diesen Sammlungen zu finden ist. Vielleicht inspiriert die Geschichte des Ekeko sogar zu weiteren Restitutionen von Objekten und zur Zusammenarbeit mit Partnern in der ganzen Welt.

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