Illustration der Kollision aus dem Christian Herald vom 11. Juni 1914. Mit KI erweitert.
Illustration der Kollision aus dem Christian Herald vom 11. Juni 1914. Mit KI erweitert. Baukultur Wädenswil

Die Schweizer auf der letzten Reise der Empress of Ireland

Am 29. Mai 1914 fand die RMS Empress of Ireland im eisigen Wasser des kanadischen Sankt-Lorenz-Stroms ein tragisches Ende. Dichter Nebel verschleierte die Sicht und führte zum fatalen Zusammenstoss mit dem norwegischen Kohlefrachter Storstad. Das Unglück forderte 1012 Leben. An Bord waren auch vier Schweizer, die sich auf dem Weg von Québec nach Liverpool befanden.

James Blake Wiener

James Blake Wiener

James Blake Wiener ist Historiker, Mitbegründer der World History Encyclopedia, Autor und PR-Spezialist, der in Europa und Nordamerika als Dozent tätig ist.

Webseite: worldhistory.org
Zwischen 1901 und 1921 wanderten drei Millionen Menschen in den Dominion of Canada aus. Die meisten von ihnen kamen aus Grossbritannien, den Vereinigten Staaten und Kontinentaleuropa. Die Zuwanderung führte zu einer drastischen Veränderung der kanadischen Städte: Die Bevölkerung von Toronto stieg um 150 Prozent und jene von Vancouver um 454 Prozent, während sich die Bevölkerung von Montreal verdoppelte und die Stadt Québec um über einen Drittel wuchs. Zu den Neuankömmlingen gehörten auch Auswandererinnen und Auswanderer aus der Schweiz. Im Zeitalter von König Eduard VII. (1901–1914) reisten viele Schweizerinnen und Schweizer als «Aufenthalter» oder «Bergführer» – Saisoniers mit befristeten Verträgen – nach Kanada. Sie waren von kanadischen oder britischen Agenten rekrutiert worden. Andere nahmen die Reise aufgrund der grosszügigen Siedlungsangebote – 65 Hektaren (160 Acres) Prärieweideland für gerade mal zehn kanadische Dollar – oder Berufschancen in den Grossstädten auf sich.
Die roten Linien zeigen das Netzwerk der Canadian Pacific Railway um 1912.
Die roten Linien zeigen das Netzwerk der Canadian Pacific Railway um 1912. Library of Congress
Die Canadian Pacific Railway spielte eine wichtige Rolle bei der kanadischen Wirtschafts- und Bevölkerungsexplosion. 1914 betrieb sie das weltweit grösste Transport- und Kommunikationsnetzwerk, wozu die längsten Zuglinien, ein gewaltiges Telegrafensystem und Schiffe auf den Grossen Seen, auf dem Pazifik und auf dem Atlantik gehörten. Anfang 20. Jahrhundert bestellte die Canadian Pacific Steamship Company zwei Schwesterdampfschiffe: die Empress of Britain und die Empress of Ireland. Am 29. Juni 1906 legte die Empress of Ireland für ihre Jungfernfahrt von Liverpool nach Québec ab. Während fast acht Jahren dampfte sie danach von Mai bis Oktober zwischen Liverpool und Québec hin und her und fuhr in den Wintermonaten Halifax und St. John an. Obwohl sie mit 14’191 Tonnen und einer Länge von 170 Metern deutlich kleiner war als die Lusitania oder die Titanic, war sie ein elegantes Schiff mit zwei Schornsteinen und hohen Masten. Die Empress of Ireland bot Platz für 1500 Passagiere und fuhr mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 18 Knoten; ausserdem verfügte sie über die neuste Sicherheitsausrüstung, wozu ein Doppelrumpf und elf wasserdichte Abteile gehörten. Auf ihrer 96. und letzten Reise waren vier Schweizer an Bord: Arnold Rohr (1882–1974), Christian Bartschi (1880–1914), Theofil Bartschi (1881–1976) und Walter Erzinger (1889–1981). Ihre Geschichten beleuchten die faszinierenden Verbindungen zwischen der Schweiz und Kanada unmittelbar vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges.
Die grosse Dampfschiffflotte der Canadian Pacific Railway. Poster von 1910.
Die grosse Dampfschiffflotte der Canadian Pacific Railway. Poster von 1910. Internet Archive
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Die Empress of Ireland transportierte regelmässig mehr als 1500 Passagiere und benötigte eine 373-köpfige Crew.
Die Empress of Ireland transportierte regelmässig mehr als 1500 Passagiere und benötigte eine 373-köpfige Crew. Wikimedia
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Passagiere an Deck der Empress of Ireland. Datum unbekannt.
Passagiere an Deck der Empress of Ireland. Datum unbekannt. Site historique maritime de la Pointe-au-Père, Rimouski (Kanada)
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Sich ausruhende Passagiere an Bord der Empress of Ireland. Datum unbekannt.
Sich ausruhende Passagiere an Bord der Empress of Ireland. Datum unbekannt. Site historique maritime de la Pointe-au-Père, Rimouski (Kanada)
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Schweizer Geschich­ten von der Empress of Ireland

Wie viele seiner Landsmänner, die während des «langen Edwardischen Sommers» zur See fuhren, war Arnold Rohr auf der Empress of Ireland als Chef-Feinbäcker auf die Herstellung von Karamellen, Bonbons und Schokolade spezialisiert. Der Ehrgeiz brachte den in Lenzburg (AG) geborenen Arnold Rohr dazu, Anfang des 20. Jahrhunderts nach Grossbritannien auszuwandern, um dort als Koch Karriere zu machen. In London heiratete er Edith Dany, mit der er kurz aufeinander die drei Kinder Lydia, Arnold und Eric hatte. Aufgrund von Arnold Rohrs beruflichem Ehrgeiz führten die Ehegatten ein Wanderleben und zogen von 1906 bis 1911 mehrmals zwischen London, Brüssel, Southport und Liverpool hin und her. Seine berufliche Laufbahn auf See begann 1912 mit einem Dienst an Bord der RMS Laconia der Cunard Line, bevor er um 1913 auf die Empress of Ireland wechselte. An Bord der Empress of Ireland arbeitete Arnold Rohr in einer geschäftigen Grossküche mit über 100 Angestellten an verschiedenen Küchenstationen. Auch wenn die Küche des Schiffs womöglich nicht so hochstehend war wie jene der Passagierschiffe von Cunard oder White Star, gab es auf der Empress of Ireland aufwendige Menüs für vier Passagierklassen und die Besatzung. Arnold Rohrs Erfahrung und seine langen Arbeitszeiten brachten ihm jeden Monat einen Bonus von sechs Pfund Sterling ein, wodurch er 50 Prozent mehr verdiente als den durchschnittlichen Besatzungslohn. Die Berner Brüder Christian und Theofil Bartschi kamen auf der Suche nach Wohlstand und Abenteuern nach Kanada. Die beiden stammten aus Eggiwil (BE) und zogen während fast eines Jahrzehnts kreuz und quer über den Atlantischen Ozean und durch den nordamerikanischen Kontinent, bevor sie an Bord der Empress of Ireland gingen. Sie folgten ursprünglich dem Ruf eines Landsmanns aus Eggiwil, Carl Stettler (1861–1920), einem dynamischen Unternehmer, der dank dem Dominion Lands Act (1872) nördlich von Calgary eine Siedlung gegründet hatte. Stettler ermutigte die Einwanderung aus der Schweiz in seine Siedlung aktiv, die schlussendlich nach ihm benannt wurde. Theofil beherzigte die Einladung und kaufte eine 65 Hektaren (160 Acres) grosse Farm in Stettlers Schweizer Kolonie in Alberta. Christian war der weniger sesshafte der beiden und arbeitete als Saisonier in Grossstädten von New York bis Vancouver und von Winnipeg bis Seattle. Er kehrte von Zeit zu Zeit in die Kolonie zurück, um Theofil zu helfen. Ihre Bemühungen erwiesen sich als einträglich: Theofils Landwirtschaftsbetrieb prosperierte, wodurch beide Brüder hohe Summen heim in den Kanton Bern schicken konnten. Anfang 1914 litten jedoch beide an Heimweh. Sie wollten ihrer Familie und ihren Freunden von ihren nordamerikanischen Abenteuern erzählen und buchten auf der Empress of Ireland einen Liegeplatz in der dritten Klasse für einen spontanen Sommerbesuch in der Schweiz. Walter Erzinger, der jüngste Sohn von Heinrich Erzinger und Rosalie Stehli von Wädenswil (ZH), machte sich 1912 mit seinem Schulfreund Jakob Huber, der eine Stelle als Banker in New York City antreten wollte, auf die Reise nach Nordamerika. Nach ihrer Ankunft in den Vereinigten Staaten reiste Walter weiter nach Manitoba in Zentralkanada, wo sich sein Onkel Johan Erzinger als erfolgreicher Händler im Tabakgeschäft von Winnipeg etabliert hatte. Winnipeg war damals die drittgrösste Stadt Kanadas und ein florierender Eisenbahnknotenpunkt, der durch die Canadian Pacific Railway reich wurde. Die durchmischte Bevölkerung bestand nicht nur aus Métis francophones sondern auch aus britischen und ukrainischen Einwanderinnen und Einwanderern. Sein Onkel weihte Walter in die Geheimnisse des Handels und der Finanzwirtschaft ein. Nach zwei produktiven Jahren in Winnipeg brauchte ihn seine Familie daheim – sein Bruder Hans war erkrankt und benötigte Pflege. Walter wählte den schnellsten Weg zurück in die Schweiz und kaufte ein Ticket zweiter Klasse auf der Empress of Ireland. Anschliessend reiste er mit dem Zug nach Québec, um an Bord des Schiffes zu gehen.

Eine epische Tragödie auf dem Sankt-Lorenz-Strom

Am 28. Mai 1914 um 16.30 Uhr verliess die Empress of Ireland Québec für ihre erste Rundreise der Frühlingssaison. Das Schiff war nur zu zwei Dritteln voll und zählte 420 Besatzungsmitglieder und 1057 Passagiere. Die meisten Passagiere gehörten der kanadischen oder britischen Mittelklasse an, aber es fuhr auch eine grössere Zahl von US-Bürgerinnen und US-Bürgern aus dem Mittleren Westen mit. Die vielen Kinder – insgesamt 138 – und die 170 Mitglieder der Heilsarmee machten die letzte Reise der Empress of Ireland zu einer besonderen Fahrt. Überdies transportierte die Empress of Ireland neben den 1100 Tonnen allgemeiner Fracht auch 252 Silberbarren mit einem geschätzten Wert von knapp 150’000 kanadischen Dollar (heute über 2 Millionen kanadische Dollar). Als die Empress of Ireland in Québec vor einer jubelnden Menge ablegte, spielte die Kapelle der Heilsarmee «God Be with You ‘Till We Meet Again». Von den Personen an Bord war niemand beschwingter als der Kapitän Henry George Kendall (1874–1965). Er war ein aufstrebendes Talent der Canadian Pacific Line und stand zum ersten Mal am Steuer des Schiffs.
Der Untergang der Empress of Ireland war nicht das einzige Schiffsunglück von Kapitän Henry Kendall. 1901 erlebte er mit, wie die SS Lusitania – nicht zu verwechseln mit der bekannteren RMS Lusitania – auf Grund lief. Später war er 1918 an Bord der HMS Calgarian, als diese von der Bundesmarine torpediert wurde. Er überlebte all diese Schiffbrüche.
Der Untergang der Empress of Ireland war nicht das einzige Schiffsunglück von Kapitän Henry Kendall. 1901 erlebte er mit, wie die SS Lusitania – nicht zu verwechseln mit der bekannteren RMS Lusitania – auf Grund lief. Später war er 1918 an Bord der HMS Calgarian, als diese von der Bundesmarine torpediert wurde. Er überlebte all diese Schiffbrüche. Wikimedia
Wie es die britische Seefahrertradition wollte, war der erste Abend auf See zwanglos und die Passagiere mussten sich für das Abendessen nicht in Schale werfen. Viele von ihnen, wie Walter Erzinger, waren müde von der langen Anreise, aber andere Überlebende erinnerten sich an die festliche Stimmung, die üblicherweise auf einer Reise von einer Seite der westlichen Welt auf die andere in der Luft lag. Während Arnold Rohr unter Deck schuftete und cremige Desserts und herzhafte Leckerbissen vorbereitete, verbrachten die Brüder Theofil und Christian Bartschi den Abend in der Gesellschaft von englischen Passagieren, genossen die Unterhaltung der Schiffskappelle und spielten Karten. Nach dem Essen, Cocktails und Tanz zogen sich die meisten Passagiere vor Mitternacht in ihre Kabinen zurück. Als die Empress of Ireland um etwa ein Uhr morgens bei Rimouski, Québec, vorbeikam, tauschte sie mit dem Postschiff Lady Evelyn die Post aus. Kurz danach, um etwa 1.20 Uhr, ging der Flusslotse der Empress of Ireland, Adélard Bernier, an Bord der SS Eureka und wünschte dem ablegenden Kapitän Kendall viel Glück. Etwa 30 Minuten später läutete die Wache der Empress of Ireland eine Glocke, um die Besatzung zu warnen, dass in etwa acht Seemeilen (14 km) Entfernung vor ihnen Lichter eines Schiffs sichtbar waren. Auch wenn dies Kapitän Kendall zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, handelte es sich dabei um das Frachtschiff Storstad, das in Richtung der Lotsenstation Pointe-au-Père segelte. Als ob das Schicksal mit ihnen spielte, kam unerwartet dichter Nebel auf und verdeckte die Sicht auf die Storstad. Es gab einfache Regeln für den Umgang mit Nebel auf See, der auf dem Sankt-Lorenz-Strom nicht unüblich war. Kapitän Kendall befahl, die Maschinen auf Rückwärtsfahrt zu legen, um die Empress of Ireland zum Stillstand zu bringen. Er liess die Schiffssirenen dreimal ertönen, um zu signalisieren, dass er rückwärts fuhr; er hoffte, dass die Storstad anhalten und dasselbe tun würde. Sobald sich der Nebel lichtete, würden beide Schiffe ihren Weg in voller Sicht voneinander weiterführen. Vorsichtshalber befahl Kapitän Kendall, die Schiffssirenen noch zweimal ertönen zu lassen, um der Storstad zu signalisieren, dass die Empress of Ireland vollkommen still stand. Eine lauter Knall durchbrach den Nebel, aber Kapitän Kendall und seine Offiziere konnten nicht erkennen, woher der Ton kam. Dann tauchte aus dem Nebel die Storstad auf, die direkt auf sie zusteuerte. Kapitän Kendall befahl, die Maschinen wieder zu starten, um sein Schiff von der Katastrophe wegzusteuern, was aber nicht gelang. Der verstärkte Bug der Storstad schnitt in die Steuerbordseite der Empress of Ireland. In nur 14 Minuten versank der Stolz der Flotte der Canadian Pacific Railway in den Wellen, während sich die beschädigte Storstad über Wasser hielt.
Der norwegische Kohlefrachter Storstad nach dem Zusammenstoss.
Der norwegische Kohlefrachter Storstad nach dem Zusammenstoss. Baukultur Wädenswil
Die Empress of Ireland neigte sich sofort stark nach Steuerbord. Der von der Storstad verursachte Aufprall führte zu einem verhängnisvollen Loch im Schiff, das etwa 8 Meter hoch und 5 Meter breit war. Kapitän Kendall befahl, die wasserdichten Türen zu schliessen, was aber nur von Hand gemacht werden konnte. Aufgrund der starken Schräglage des Schiffes war es der Besatzung und dem Nachtpersonal nicht möglich, die Befehle des Kapitäns auszuführen. Unterdessen füllte sich die Empress of Ireland mit 227’000 Litern Wasser pro Sekunde. Da es am Vortag warm und angenehm gewesen war, hatten viele Passagiere ihre Bullaugen offengelassen, um die frische Luft zu geniessen. Dies führte dazu, dass das Schiff schneller sank und verhinderte, dass Kapitän Kendall die Empress of Ireland auf Strand setzen konnte. Hunderte ertranken schauerlich innerhalb von Sekunden in ihren Kabinen. Andere kamen in den dunklen Gängen des Schiffes um, nachdem fünf Minuten nach dem Zusammenstoss der Strom ausfiel.
Die Passagiere der Empress of Ireland versuchten verzweifelt, sich zu retten.
Die Passagiere der Empress of Ireland versuchten verzweifelt, sich zu retten. Wikimedia
Nach der Katastrophe schrieb Walter Erzinger einen Brief an seine Familie, in dem er sich an einen kräftigen Stoss erinnerte. Als er hörte, wie plötzlich Personen auf dem Deck herumrannten, beschloss er, seine Kabine zu verlassen. Er ergriff seinen Rettungsgürtel und erreichte das Bootsdeck, wo er in das 2 °C kalte Wasser sprang. Walter würde sich für den Rest seines Lebens an den Ruf eines Matrosen erinnern: «Jedermann mache sich aufs Schlimmste gefasst, rette sich wer kann!» Er hatte jedoch Glück und Besatzungsmitglieder der Storstad konnten ihn aus dem Wasser retten, bevor er unterkühlt war. Theofil Bartschi überlieferte ähnliche Erinnerungen des Schreckens und der Verwirrung, als er in der Folge von einem Reporter des Calgary Herald befragt wurde. Er und sein Bruder Christian dachten zunächst, das Schiff sei auf Grund gelaufen. Beide waren besonnen genug, auf dem Bootsdeck nachzuschauen, was vorgefallen war. Mit Blick auf das Chaos und der Einsicht, dass die Empress of Ireland dem Untergang geweiht war, sprangen die beiden ins schäumende Wasser des Sankt-Lorenz-Stroms und versuchten, zur Storstad zu schwimmen. Im Wasser verloren sich die beiden Brüder aus den Augen und Christian ertrank. Der verstörte Theofil wurde von einem Rettungsboot der Storstad in Sicherheit gebracht. Dank seiner guten Kenntnis der Empress of Ireland konnte auch das Besatzungsmitglied Arnold Rohr das Schiff verlassen, bevor es kenterte und sank. Obwohl die Empress of Ireland über mehr als genug Rettungsboote aus Stahl für die Passagiere und die Besatzung verfügte, konnten wegen der Schräglage und dem raschen Sinken des Schiffs nur fünf davon ins Wasser gelassen werden.
Passagiere versuchen, ein Rettungsboot abzuwerfen. Illustration einer zeitgenössischen englischen Zeitung.
Passagiere versuchen, ein Rettungsboot abzuwerfen. Illustration einer zeitgenössischen englischen Zeitung. Britannica Imagequest, The Granger Collection

Verwobene Schweizer und kanadi­sche Geschichten

Der Untergang der Empress of Ireland ist das grösste Schiffsunglück der kanadischen Geschichte in Friedenszeiten. Auf der Empress of Ireland (840) starben mehr Passagiere als auf der Titanic (817) oder auf der Lusitania (786). 1012 der insgesamt 1477 Personen an Bord verloren ihr Leben, darunter 134 Kinder.
Der Tag nach dem Unglück: aufgereihte Särge und medizinische Versorgung der Überlebenden.
Der Tag nach dem Unglück: aufgereihte Särge und medizinische Versorgung der Überlebenden.
Der Tag nach dem Unglück: aufgereihte Särge und medizinische Versorgung der Überlebenden. Wikimedia
Nur 188 Leichen wurden geborgen; die sterblichen Überreste von Christian Bartschi wurden nie gefunden. Nach dem Schiffsunglück kehrte Arnold Rohr nach Liverpool zurück und wanderte 1917 in die Vereinigten Staaten aus. Er liess sich von seiner ersten Frau scheiden und heiratete wieder, arbeitete aber nie mehr auf See. Er wurde 1922 in den USA eingebürgert und liess sich in Wisconsin nieder, wo er 1974 im fortgeschrittenen Alter von 91 Jahren verstarb. Der Allgemeine Anzeiger vom Zürichsee berichtete in seiner Ausgabe vom 30. Mai 1914 über die Anwesenheit von Walter Erzinger auf der Empress of Ireland. Die Familie Erzinger war erleichtert, als sie am nächsten Tag ein Telegramm von Walter erhielt. Jahre nach dem Unglück heiratete Walter Fanny Stiefenhofer und wurde Vater von Silvia, Walter, Adrian und Frank. Mit seinem Bruder Heinrich führte er während vielen Jahren die einträgliche Bürstenfabrik «H. & W. Erzinger», bis er 1981 mit 92 Jahren starb. Der begnadete Akkordeonist, Tänzer und Unternehmer Theofil Bartschi führte ein langes und glückliches Leben. Er erhielt 1924 die kanadische Staatsbürgerschaft und lebte viele Jahre in Stettler, bevor er nach Edmonton zog, wo er für den National Music Service of Canada arbeitete. Als lebenslanger Unternehmer war er noch in fortgeschrittenem Alter an der Gründung der «Sunland Biscuit Company» beteiligt. Theofil starb 1976 im Alter von 95 Jahren in Edmonton und wurde in Stettler bestattet.
Walter Erzinger (rechts aussen) mit anderen Überlebenden der Schiffskatastrophe.
Walter Erzinger (rechts aussen) mit anderen Überlebenden der Schiffskatastrophe. Baukultur Wädenswil
Die Tragödie der Empress of Ireland, eines der tödlichsten Schiffsunglücke des 20. Jahrhunderts, wurde bald vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs überschattet. Obwohl Taucher das Wrack 1964 kartierten und erforschten, nahm es die kanadische Regierung erst 2009 in die Liste der nationalen historischen Stätten auf. Heute ruht die Empress of Ireland nur 8 Kilometer vom Ufer entfernt 45 Meter unter dem Wasser auf ihrer Steuerbordseite. Während der Untergang der Titanic den Höhepunkt der Edwardischen Epoche markierte und jener der Lusitania ihr Ende einläutete, symbolisierte der Verlust der Empress of Ireland einen ebenso tiefgreifenden Wandel: das Ende eines Jahrhunderts europäischer Auswanderungsströme. Zwischen 1820 und 1920 wanderten fast 40 Millionen Europäerinnen und Europäer über den Atlantik nach Amerika aus. Die Empress of Ireland spielte bei dieser Migrationsbewegung eine wichtige Rolle, denn sie transportierte über 117’000 Auswandererinnen und Auswanderer nach Kanada und fuhr 70’000 Personen zurück nach Europa. Heute gibt es über eine Million Nachkommen dieser Auswandererinnen und Auswanderer und auch jene schweizerischer Abstammung sind Teil dieses Völkerteppichs.

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