
Die Schweizer auf der letzten Reise der Empress of Ireland
Am 29. Mai 1914 fand die RMS Empress of Ireland im eisigen Wasser des kanadischen Sankt-Lorenz-Stroms ein tragisches Ende. Dichter Nebel verschleierte die Sicht und führte zum fatalen Zusammenstoss mit dem norwegischen Kohlefrachter Storstad. Das Unglück forderte 1012 Leben. An Bord waren auch vier Schweizer, die sich auf dem Weg von Québec nach Liverpool befanden.

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Die Berner Brüder Christian und Theofil Bartschi kamen auf der Suche nach Wohlstand und Abenteuern nach Kanada. Die beiden stammten aus Eggiwil (BE) und zogen während fast eines Jahrzehnts kreuz und quer über den Atlantischen Ozean und durch den nordamerikanischen Kontinent, bevor sie an Bord der Empress of Ireland gingen. Sie folgten ursprünglich dem Ruf eines Landsmanns aus Eggiwil, Carl Stettler (1861–1920), einem dynamischen Unternehmer, der dank dem Dominion Lands Act (1872) nördlich von Calgary eine Siedlung gegründet hatte. Stettler ermutigte die Einwanderung aus der Schweiz in seine Siedlung aktiv, die schlussendlich nach ihm benannt wurde. Theofil beherzigte die Einladung und kaufte eine 65 Hektaren (160 Acres) grosse Farm in Stettlers Schweizer Kolonie in Alberta. Christian war der weniger sesshafte der beiden und arbeitete als Saisonier in Grossstädten von New York bis Vancouver und von Winnipeg bis Seattle. Er kehrte von Zeit zu Zeit in die Kolonie zurück, um Theofil zu helfen. Ihre Bemühungen erwiesen sich als einträglich: Theofils Landwirtschaftsbetrieb prosperierte, wodurch beide Brüder hohe Summen heim in den Kanton Bern schicken konnten. Anfang 1914 litten jedoch beide an Heimweh. Sie wollten ihrer Familie und ihren Freunden von ihren nordamerikanischen Abenteuern erzählen und buchten auf der Empress of Ireland einen Liegeplatz in der dritten Klasse für einen spontanen Sommerbesuch in der Schweiz.
Walter Erzinger, der jüngste Sohn von Heinrich Erzinger und Rosalie Stehli von Wädenswil (ZH), machte sich 1912 mit seinem Schulfreund Jakob Huber, der eine Stelle als Banker in New York City antreten wollte, auf die Reise nach Nordamerika. Nach ihrer Ankunft in den Vereinigten Staaten reiste Walter weiter nach Manitoba in Zentralkanada, wo sich sein Onkel Johan Erzinger als erfolgreicher Händler im Tabakgeschäft von Winnipeg etabliert hatte. Winnipeg war damals die drittgrösste Stadt Kanadas und ein florierender Eisenbahnknotenpunkt, der durch die Canadian Pacific Railway reich wurde. Die durchmischte Bevölkerung bestand nicht nur aus Métis francophones sondern auch aus britischen und ukrainischen Einwanderinnen und Einwanderern. Sein Onkel weihte Walter in die Geheimnisse des Handels und der Finanzwirtschaft ein. Nach zwei produktiven Jahren in Winnipeg brauchte ihn seine Familie daheim – sein Bruder Hans war erkrankt und benötigte Pflege. Walter wählte den schnellsten Weg zurück in die Schweiz und kaufte ein Ticket zweiter Klasse auf der Empress of Ireland. Anschliessend reiste er mit dem Zug nach Québec, um an Bord des Schiffes zu gehen.
Eine epische Tragödie auf dem Sankt-Lorenz-Strom

Etwa 30 Minuten später läutete die Wache der Empress of Ireland eine Glocke, um die Besatzung zu warnen, dass in etwa acht Seemeilen (14 km) Entfernung vor ihnen Lichter eines Schiffs sichtbar waren. Auch wenn dies Kapitän Kendall zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, handelte es sich dabei um das Frachtschiff Storstad, das in Richtung der Lotsenstation Pointe-au-Père segelte. Als ob das Schicksal mit ihnen spielte, kam unerwartet dichter Nebel auf und verdeckte die Sicht auf die Storstad. Es gab einfache Regeln für den Umgang mit Nebel auf See, der auf dem Sankt-Lorenz-Strom nicht unüblich war. Kapitän Kendall befahl, die Maschinen auf Rückwärtsfahrt zu legen, um die Empress of Ireland zum Stillstand zu bringen. Er liess die Schiffssirenen dreimal ertönen, um zu signalisieren, dass er rückwärts fuhr; er hoffte, dass die Storstad anhalten und dasselbe tun würde. Sobald sich der Nebel lichtete, würden beide Schiffe ihren Weg in voller Sicht voneinander weiterführen. Vorsichtshalber befahl Kapitän Kendall, die Schiffssirenen noch zweimal ertönen zu lassen, um der Storstad zu signalisieren, dass die Empress of Ireland vollkommen still stand. Eine lauter Knall durchbrach den Nebel, aber Kapitän Kendall und seine Offiziere konnten nicht erkennen, woher der Ton kam. Dann tauchte aus dem Nebel die Storstad auf, die direkt auf sie zusteuerte. Kapitän Kendall befahl, die Maschinen wieder zu starten, um sein Schiff von der Katastrophe wegzusteuern, was aber nicht gelang. Der verstärkte Bug der Storstad schnitt in die Steuerbordseite der Empress of Ireland. In nur 14 Minuten versank der Stolz der Flotte der Canadian Pacific Railway in den Wellen, während sich die beschädigte Storstad über Wasser hielt.



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Der Tag nach dem Unglück: aufgereihte Särge und medizinische Versorgung der Überlebenden. Wikimedia
