Maria Theresia Wilhelm und ihr späterer Ehemann Ulrich Gantenbein wurden Opfer von «fürsorgerischen Zwangsmassnahmen».
Maria Theresia Wilhelm und ihr späterer Ehemann Ulrich Gantenbein wurden Opfer von «fürsorgerischen Zwangsmassnahmen». Familie Gantenbein

Was geschah mit Maria Theresia Wilhelm?

Im Juli 1960 verschwindet im St. Galler Rheintal eine Frau und taucht nie wieder auf. Sie ist Psychiatriepatientin und Mutter von sieben Kindern, die man fremdplatziert hat. Die Geschichte von Maria Theresia Wilhelm sowie ihres Mannes Ulrich Gantenbein ist geprägt von Tragik, Gewalt und Behördenwillkür.

Stefan Keller

Stefan Keller

Stefan Keller ist Historiker und Journalist, Autor unter anderem der historischen Reportage «Maria Theresia Wilhelm, spurlos verschwunden» von 1991.

Als wir sie suchten, war sie beinahe 80 Jahre alt, sofern sie noch am Leben war. David Gantenbein, einer der Söhne, erzählte ihre unglaubliche Geschichte: Seine Mutter, sagte David, sei von der Gemeinde Grabs im St. Galler Rheintal während Jahrzehnten verfolgt und immer wieder in Anstalten versenkt worden, bis sie eines Tages spurlos verschwand. Zuvor habe man ihr die Kinder der Reihe nach weggenommen. Er, David, sei nach einer Jugend als Pflegekind und Verdingbub nach Hamburg gefahren, um dort Seemann zu werden, weit ausserhalb der Reichweite der Schweizer Behörden. Erst Jahre später, bei der Beerdigung des Vaters 1977, habe er alle seine Geschwister kennengelernt. Jetzt sei er zurück, um die Mutter zu finden. So begann eine Recherche, die bis heute nicht ganz abgeschlossen ist. Im Herbst 1988 besuchten wir zunächst einen früheren Nachbarn der Familie, der uns die Erzählung des Sohnes bestätigte und ergänzte: Nicht nur die Mutter, Maria Theresia Gantenbein, geborene Wilhelm, sei zwangsweise in eine Psychiatrie eingeliefert worden, sondern auch der Vater Ulrich Gantenbein.

Eine Liebe in den Bergen

Maria Theresia Wilhelm, die «Theres» oder «Resi», ist eine junge Frau aus Vorarlberg, die in den 1930er-Jahren über die Schweizer Grenze ins St. Galler Rheintal geht, um als Serviertochter zu arbeiten, wie man den Beruf zu jener Zeit nennt. Bei der Arbeit lernt sie einen Gast näher kennen, den Bergbauern Ulrich Gantenbein vom Studnerberg bei Grabs, der im Nebenberuf kantonaler Wildhüter ist. Einst war Gantenbein selber Wilderer. Er gilt als besonders kräftig, ein gut gebauter, selbstbewusster, aber auch jähzorniger Mann. Nach seinem etwa sechs Hektar grossen, zerstückelten Anwesen auf dem Studnerberg nennt man ihn den «Sandbühler».
Maria Theresia Wilhelm, undatierte Fotografie.
Maria Theresia Wilhelm, undatierte Fotografie. Familie Gantenbein
Ulrich Gantenbein, 1943.
Ulrich Gantenbein, 1943. Familie Gantenbein
Gantenbein ist mit einer Grabserin verheiratet, sie haben fünf Kinder. Als die Ehefrau auszieht und die Resi aus dem Vorarlberg auf dem «Sandbühel» einzieht, intervenieren die Behörden, um das aussereheliche Verhältnis zu beenden: Die junge Frau wird im April 1936 verhaftet. Gantenbein, der sich für sie wehrt, wird ebenfalls festgenommen. Man schiebt Resi nach Österreich ab, ihn sperrt man in die psychiatrische Klinik Wil: Er hat einen Lokalpolitiker geohrfeigt. Ein paar Wochen nach der Ausschaffung seiner Freundin wird Gantenbein freigelassen, kehrt nach Grabs zurück, legt das staatliche Wildhüteramt nieder und lässt sich scheiden.
Maria Theresia Wilhelm und Ulrich Gantenbein heiraten 1938.
Maria Theresia Wilhelm und Ulrich Gantenbein heiraten 1938. SRF Rundschau
Neun Monate später bringt Theresia Wilhelm in Österreich eine Tochter zur Welt. Sie ist behindert und wird ihr Leben in Vorarlberger Heimen verbringen. 1938 heiratet Resi den inzwischen geschiedenen Ueli und ist damit Schweizer Bürgerin. Auch diese Ehe fängt bald an zu kriseln. Gantenbein streift oft durch die Berge, jetzt wieder als Wilderer, und es heisst, er vernachlässige den Hof. Resi hält das Leben auf dem «Sandbühel» schliesslich nicht mehr aus. Den Nachbarinnen und Nachbarn in Grabs kann sie es sowieso nicht recht machen, den Behörden gilt sie als sexuell haltlos und damit gefährlich, weil sie Gantenbein seiner ersten Frau ausspannte. Das Geld ist knapp. 1943 reicht Theresia Gantenbein die Scheidung ein. Sie zieht vom «Sandbühel» ins örtliche Bürgerheim und findet eine Stelle als Wäscherin im Spital. Mit Ueli hat sie inzwischen drei Kinder. Beim Versuch, die Resi zurück zu holen, gerät Gantenbein in eine Schlägerei mit dem örtlichen Landjäger. Er wird erneut verhaftet und diesmal in der Psychiatrischen Klinik St. Pirminsberg in Pfäfers interniert.
Ulrich Gantenbein mit erlegtem Wild vor dem Haus «Sandbühel», undatierte Fotografie.
Ulrich Gantenbein mit erlegtem Wild vor dem Haus «Sandbühel», undatierte Fotografie. Familie Gantenbein

Elektro­schocks und Deckelbäder

Sofort nach der Einlieferung in Pfäfers wird Ulrich Gantenbein 1943 mit der Härte der damaligen Anstaltspsychiatrie therapiert. Man verabreicht ihm Deckelbäder, eine Behandlung, bei der Patientinnen und Patienten stundenlang in einer geschlossenen und gefüllten Badewanne eingesperrt werden. Man appliziert Elektroschocks, bei denen das Hirn unter Strom gesetzt wird und bei denen er, wie bezeugt wird, seine Zähne ausbeisst. Er flieht aus der Klinik, wird eingefangen und zurückgebracht.
Die Psychiatrische Klinik St. Pirminsberg in Pfäfers
Die Psychiatrische Klinik St. Pirminsberg in Pfäfers. Hier erleideten Maria Theresia Wilhelm und Ulrich Gantenbein zweifelhafte Therapien und Strafen. Sarganserländer
Theresia Gantenbein hat sich mit ihrem Mann wieder versöhnt, ein vierter Bub ist unterwegs. Auf dem Hof muss sie sich alleine durchschlagen. Die beiden schreiben einander traurige Briefe, doch als Ueli nach einem halben Jahr entlassen wird, geht es gar nicht lange, bis sie erneut ins Bürgerheim flieht. 1944 sperrt der Gemeinderat Ueli in die Arbeitserziehungsanstalt, später «versorgt» man ihn administrativ im Gefängnis und dann wieder in der Psychiatrie. 1945 hat die verlassene, um die familiäre Existenz kämpfende Resi einen Nervenzusammenbruch. Sie kommt ebenfalls nach Pfäfers in die Klinik, wo am Tag nach der Einlieferung die Elektroschocks beginnen. Ausserdem verordnen ihr die Ärzte eine Schlafkur, zahlreiche Deckelbäder und andere Therapien, die gemäss Akten stets auch als Strafe für auffälliges Verhalten dienen. Das Bezirksamt entzieht den Gantenbeins die Gewalt über die Kinder. Sie werden an Pflegeplätze, in Heime oder zu Bauern verstellt.
Therapie und Strafe zugleich: Still aus dem Film «Das Deckelbad» (2014). Maria Theresia Wilhelms Geschichte diente als Grundlage für das Drehbuch.
Therapie und Strafe zugleich: Still aus dem Film «Das Deckelbad» (2014). Maria Theresia Wilhelms Geschichte diente als Grundlage für das Drehbuch. Ascot Elite
Resi und vor allem Ueli versuchen immer wieder aus den jeweiligen Anstalten zu fliehen, immer wieder werden sie eingefangen. 1947 gebärt Theresia Wilhelm nochmals Zwillinge, mit der Tochter in Vorarlberg sind es inzwischen sieben Kinder, auch die Jüngsten werden der Mutter weggenommen. Ohne dass die Kinder das Geringste für die Situation der Eltern könnten, sind sie nun Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen. Ihre Jugend als verachtete, missbrauchte Verdingbuben und ungeliebte Pflegekinder prägt sie für das ganze Leben. Einmal wird einer der Söhne von einem Dienstherrn mit der Heugabel im Genick gezwungen, aus dem Hundenapf zu fressen, weil er aus Hunger eine Birne gestohlen hat.
Eine Tochter von Theresia Wilhelm erzählt in der Rundschau vom 29. April 2015 von ihren Kindheitserinnerungen und vom Schicksal ihrer Eltern. SRF

Das ungeklär­te Verschwinden

Im Sommer 1960 geht Maria Theresia Wilhelm, geschiedene Gantenbein, von Grabs ins Nachbardorf Buchs um einzukaufen. 1950 hat man sie im Kantonsspital Chur lobotomisiert, das heisst, einen Teil ihres Gehirnes amputiert, um sie ruhig zu stellen. Solche Operationen wurden damals vor allem an Frauen ausgeführt. Als sie trotzdem aufbegehrt, verabreicht man ihr in Pfäfers weitere Elektroschocks und später starke Psychopharmaka. Erst als sie keine Kinder mehr bekommen kann, wird sie freigelassen. Vom Gang nach Buchs fünf Wochen später kehrt sie nie mehr zurück. Auch Ulrich Gantenbein ist entlassen worden, in einem Gutachten von 1953 heisst es plötzlich, seine Verbitterung sei menschlich begreifbar. Medizinisch hätte es nie etwas zu therapieren gegeben. Bis zum Tod hat er dann seine Resi gesucht, doch er hat sie so wenig gefunden wie wir viele Jahre später.
Brief der Gemeinde Grabs vom August 1959. Auf die Bitte, für die Kosten der Aufbesserung von Maria Theresia Wilhelms Zahnprothese aufzukommen, schreibt der Präsident der Armenbehörde von Grabs zynisch, dass beim kürzlichen Besuch ihr «Mundwerk wie geölt lief».
Brief der Gemeinde Grabs vom August 1959. Auf die Bitte, für die Kosten der Aufbesserung von Maria Theresia Wilhelms Zahnprothese aufzukommen, schreibt der Präsident der Armenbehörde von Grabs zynisch, dass beim kürzlichen Besuch ihr «Mundwerk wie geölt lief». Familie Gantenbein

Zwei von Hundertausenden

Damals, als David Gantenbein aus Hamburg in die Schweiz kam, um seine Mutter zu finden, beantragten wir beim Kanton St. Gallen die Einsicht in die Akten beider Eltern. Aufgrund der Aufzeichnungen der Psychiatrie, mit Hilfe der Fürsorgeakten, dank Gesprächen mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen am Grabser- und Studnerberg und der Unterstützung eines befreundeten Psychiaters entstand eine Zeitungsserie sowie ein Buch. Für Schweizer Verhältnisse wurde es ein Bestseller. So kam die Geschichte von Maria Theresia Wilhelm und Ulrich Gantenbein ans Licht. Unzählige weitere Fälle bleiben im Verborgenen. Das Nationale Forschungsprogramm «NFP 76» berichtet, dass mehrere Hunderttausend Menschen – die genaue Zahl lässt sich nicht feststellen – im 20. Jahrhundert von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen betroffen waren. Viele wurden Opfer von Misshandlung, Missbrauch und wirtschaftlicher Ausbeutung. Dazu gehören unter anderem Kinder, die aus ihren Familien genommen und in Heimen oder Pflegefamilien untergebracht wurden, Erwachsene, die man in Anstalten versorgte, ohne dass sie eine Straftat begangen hatten, ferner ledige Frauen, die gedrängt wurden, ihre Kinder zur Adoption freizugeben, und Menschen, die Opfer medizinischer Zwangsbehandlungen oder von Medikamentenversuchen wurden.

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