Historischer Unterschriften-Marathon: Am 1. August 1975 wurde die Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) unterschrieben.
Historischer Unterschriften-Marathon: Am 1. August 1975 wurde die Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) unterschrieben. Wikimedia / National Archives and Records Administration

1. August in Helsinki

Ausgerechnet am Schweizer Nationalfeiertag 1975 unterzeichnete Bundespräsident Pierre Graber in der finnischen Hauptstadt Helsinki die sogenannte Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Es war ein Zeichen der Entspannung mitten im Kalten Krieg.

Thomas Bürgisser

Thomas Bürgisser

Thomas Bürgisser ist Historiker bei der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis).

Gestützt auf eine vom 1. August 1291 datierende Urkunde wurde 1891, anlässlich ihres angeblich 600-jährigen Bestehens, die Geburtsstunde der Eidgenossenschaft gefeiert. Aus Sicht der historischen Forschung taugt der Bundesbrief zwar kaum als verlässliches Gründungscharta für die Schweiz. Dennoch ist der 1. August – seit 1994 ein offizieller Feiertag – ein besonderes Datum und landauf, landab Anlass für ausgedehnte Feierlichkeiten, Feuerwerk und Reden der politischen Selbstvergewisserung.
Der 1. August ist ein Höhepunkt für viele Schweizer Kinder. Mit Lampions und Feuerwerk wird der Geburtstag des Landes gefeiert.
Der 1. August ist ein Höhepunkt für viele Schweizer Kinder. Mit Lampions und Feuerwerk wird der Geburtstag des Landes gefeiert. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
Auch im Jahr 1975 wurde der 1. August gefeiert und ein wichtiges Dokument unterzeichnet. Dies jedoch nicht auf der Rütliwiese, sondern in einem modernen, von Alvar Aalto entworfenen Kongresszentrum am Ufer der Töölö-Bucht inmitten der finnischen Hauptstadt Helsinki. Bundespräsident Pierre Graber setzte hier vor genau 50 Jahren, am Bundesfeiertag, für die Schweiz als einer von 35 Staats- und Regierungschefs seine Unterschrift unter die Abschlusserklärung der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, kurz: die KSZE-Schlussakte. Dies sei wohl der beste 1. August seit langem, titelte die Tribune de Genève mit Blick auf die feierliche Unterzeichnung der Charta, welche die Zeitung als Signal des Bundesrats für grössere Offenheit der Schweiz gegenüber der Welt und mehr Engagement in der Aussenpolitik deutete. Tatsächlich handelt es sich bei der Schlussakte von Helsinki um ein aussergewöhnliches Dokument. Es war keine Selbstverständlichkeit, dass, mitten im Kalten Krieg, die Vertreter aller europäischen Staaten aus West und Ost inklusive der Sowjetunion sowie die USA und Kanada an einem Tisch zusammenkamen, gemeinsame Werte beschworen und sich zur Einhaltung gleicher Regeln verpflichteten.
TV-Beitrag über die KSZE-Schlussakte, welche am 1. August 1975 in Helsinki unterschrieben wurde. SRF
Die Initiative zur Einberufung einer europäischen Sicherheitskonferenz war 1969 von der UdSSR und den Staaten des Warschauer Pakts ausgegangen. Es war die Zeit der sogenannten Entspannungspolitik, als sich die beiden Supermächte – nach einer konfrontativen Phase des Kalten Kriegs zu Beginn der 1960er-Jahre – mit der Einrichtung eines direkten Kommunikationskanals zwischen Weissem Haus und Kreml und dem Beginn von Verhandlungen zur Begrenzung der nuklearen Rüstung anzunähern begannen. In der Schweiz stiessen die Vorschläge zuerst auf grossen Argwohn. Er sei von der «Aufrichtigkeit der Détente-Wünsche der Sowjets nicht überzeugt und noch weniger über deren Fähigkeit Zugeständnisse zu machen», hielt der Bundesrat fest. Moskau verfolge mit seinem Vorschlag primär propagandistische Absichten, vermutete auch eine vom Bundesrat eingesetzt Arbeitsgruppe des Aussendepartements. Es ginge den Russen darum, als Friedensstifter aufzutreten, den Status quo in Osteuropa zu festigen, Zwietracht unter ihren Gegnern zu säen und einer zu grossen wirtschaftlichen Konzentration im Westen entgegenzuwirken. «Starkes Misstrauen ist deshalb berechtigt,» mahnten die Diplomaten. Die folgenden Monate zeigten, dass trotz aller Skepsis ein prinzipielles Interesse an der Einberufung einer Konferenz überwog. Sowohl im Westen wie im Osten erhofften sich die Regierungen von der Erörterung multilateraler Sicherheitsfragen eine Verbesserung der Lage auf dem Kontinent. Dabei vertraten die Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft, der Nato sowie die neutralen und bündnisfreien Staaten teils divergierende Ansprüche, und selbst der Ostblock erschien weniger monolithisch als gedacht.
Aussenminister Willy Spühler, hier beim Staatsbesuch des norwegischen Königs Olav V., war wie der Gesamtbundesrat skeptisch gegenüber den Vorschlägen aus dem Osten.
Aussenminister Willy Spühler, hier beim Staatsbesuch des norwegischen Königs Olav V., war wie der Gesamtbundesrat skeptisch gegenüber den Vorschlägen aus dem Osten. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
Die Arbeitsgruppe des Aussendepartements formulierte 1970 in ihrem Bericht an den Bundesrat die Stossrichtung schweizerischer Interessen. So lancierte die Schweizer Diplomatie, anknüpfend an ihre traditionelle Rolle als Schiedsrichterin zwischenstaatlicher Konflikte, den Vorschlag zur Einrichtung eines Systems friedlicher Streitbeilegung. Auch die «Förderung der zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Ost und West» sei «ohne Zweifel ein Anliegen, das Gegenstand einer schweizerischen Initiative sein kann». Des weiteren wollte man in Bern das Recht auf Neutralität im Rahmen der Konferenz verankern. Und schliesslich anerbot die Schweiz als Zeichen ihrer Disponibilität zur Leistung «Guter Dienste» Genf als möglichen Austragungsort der Verhandlungen. Nach den ersten Absichtsbekundungen in den Hauptstädten zwischen Biskaya, Barentsee und Bosporus folgten zwei Jahre gegenseitiger Sondierungen und Konsultationen quer durch Europa. Auch der schweizerische Aussenminister und seine Chefbeamten machten bei diesem Besuchsreigen mit und intensivierten die Empfänge ausländischer Amtsträger in Bern sowie die eigenen Reisen ins Ausland nach damaligen helvetischen Massstäben schon fast ins Ungeheuerliche. Am regsten war der Austausch mit den anderen Neutralen – die «Auffassungen in Schweden und Österreich stimmen mit den unsrigen weitgehend überein». Aber auch den neuartigen Gedankenaustausch mit den hinter dem «Eisernen Vorhang» gelegenen Ländern Osteuropas empfand die Schweizer Diplomatie als überraschend fruchtbar.

In sechs Monaten zur Konferenzagenda

Im November 1972 begannen schliesslich die multilateralen Vorverhandlungen im Kongresszentrum Dipoli bei Helsinki. Während sechs Monaten stellten die 35 Delegationen in mühsamer diplomatischer Kleinarbeit eine Konferenzagenda zusammen und legten die organisatorischen und inhaltlichen Richtlinien für den Ablauf der Hauptverhandlungen fest – einschliesslich des zentralen Konsensprinzips. Zum Abschluss dieser Phase kamen erstmals alle Aussenminister der Teilnehmerstaaten in der finnischen Hauptstadt zusammen. Die Schweiz wurde von Bundesrat Pierre Graber vertreten.
Porträt von Bundesrat Pierre Graber, aufgenommen im Dezember 1971.
Porträt von Bundesrat Pierre Graber, aufgenommen im Dezember 1971. e-pics
Die Hauptverhandlungen wurden im September 1973 eröffnet und fanden in verschiedenen Kongresszentren in Genf statt. Thematisch gebündelt war die Verhandlungsmasse in vier sogenannten «Körben». Der erste Korb betraf den Prinzipienkatalog zu grundlegenden Fragen der Souveränität und der zwischenstaatlichen Beziehungen sowie sicherheitspolitische Erwägungen im engeren Sinn und vertrauensbildende Massnahmen im militärischen Bereich; der zweite war der Zusammenarbeit zwischen Ost und West in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Umwelt gewidmet. Korb drei zu «menschlichen Kontakten» war auf Druck der westlichen Staaten in die Verhandlungspakete aufgenommen worden. Hier ging es um den Austausch in zwischenmenschlichen, kulturellen, Bildungs- und Informationsfragen. Es war das eigentliche Pièce de résistance der KSZE, weil bei der Interpretation von Grundfreiheiten und Menschenrechten erhebliche Differenzen zwischen den Auffassungen der demokratischen Länder und der autoritären Staaten bestanden. Im vierten Korb ging es schliesslich um das «Follow-up» der KSZE.

Schweizer Einfluss auf die Verhandlungen

Bereits in Dipoli und nun wieder in Genf nahm die Schweiz hinter den Kulissen eine bedeutsame Rolle wahr. Zusammen mit den anderen Neutralen Österreich, Schweden und Finnland – ab 1974 auch im Verbund mit dem blockfreien Jugoslawien sowie den Kleinststaaten Zypern, Malta, San Marino und Liechtenstein als «Gruppe der N+N», der Neutrals and Non-Aligned – leistete sie wichtige Vermittlungsdienste. Voraussetzung war selbstredend immer eine prinzipielle Kompromissbereitschaft der beiden Supermächte. Doch wenn die Diskussionen jeweils soweit verfahren waren, dass beide Lager keine Zugeständnisse einbringen oder akzeptieren konnten, ohne das Gesicht zu verlieren, wurden Vorschläge über den Kanal der N+N eingebracht. In solchen Schlüsselmomenten halfen die Schweizer Diplomaten mit, die Verhandlungen zu deblockieren und schliesslich zu einem für alle Staaten annehmbaren Ergebnis zu führen.
Artikel des Burgdorfer Tagblatts zum Wirken der Schweiz an den KSZE-Verhandlungen in Genf, September 1973.
Artikel des Burgdorfer Tagblatts zum Wirken der Schweiz an den KSZE-Verhandlungen in Genf, September 1973. e-newspaperarchives
Nach monatelanger Redaktionsarbeit und zähem Ringen um einzelne Formulierungen stand schliesslich im Sommer 1975 die KSZE-Schlussakte zur Unterschrift bereit. Grob gesagt lag der prinzipielle Trade-off darin, dass die Sowjetunion und ihre Verbündeten in dem 80 Seiten starken Dokument ihre territoriale Souveränität und die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen bestätigen konnte, während es dem Westen gelang, dem Ostblock Zugeständnisse bezüglich der Wahrung der Menschenrechte abzuringen. Der Weg zum 1. August 1975 in Helsinki war frei. «Tatsächlich handelt es sich hier um die erste Zusammenkunft der Verantwortlichen aller Länder der europäischen Familie», hielt Bundespräsident Graber am 30. Juli in seiner Rede vor den in der Finlandia-Halle versammelten Staats- und Regierungschefs fest. Zwar wirkten die Resultate auf den ersten Blick bescheiden und entsprächen nicht allen zuvor gehegten Hoffnungen, stellte der Magistrat kritisch fest. «Und dennoch! Allein der Umstand, dass derart heikle Fragen in aller Offenheit auf diplomatischer Ebene zwischen Staaten von unterschiedlichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systemen aufgegriffen und diskutiert werden konnten, ist an sich schon ein positives Element. Und die Tatsache, dass die gleichen Länder sich auf Texte einigen konnten, die zumindest das Verdienst haben, zu existieren, ist ein weiterer Grund zur Hoffnung.»
Der sowjetische Staatschef Leonid Breschnew (Mitte) und der amerikanische Präsident Gerald Ford (rechts) stossen auf die unterschriebene KSZE-Schlussakte an. Ein Bild, das einige Jahre zuvor unmöglich gewesen wäre. 
Der sowjetische Staatschef Leonid Breschnew (Mitte) und der amerikanische Präsident Gerald Ford (rechts) stossen auf die unterschriebene KSZE-Schlussakte an. Ein Bild, das einige Jahre zuvor unmöglich gewesen wäre. Wikimedia / National Archives and Records Administration
In der Tat war die Helsinki-Schlussakte, ein völkerrechtlich nicht bindender, aber für die Signatarstaaten verbindlicher «Verhaltenskodex» für die Ausgestaltung der zwischenstaatlichen Beziehungen auf dem Kontinent, das einzige gesamteuropäische politische Regelwerk und kann deshalb als grösste Errungenschaft der europäischen Diplomatie im Kalten Krieg angesehen werden. Trotz aller Widrigkeiten blieb die KSZE bis zum Fall des «Eisernen Vorhangs» als Forum des Ost-West-Dialogs bestehen. In Folgekonferenzen wurden die Einhaltung Prinzipien von Helsinki jeweils überprüft und ausgebaut. Nach den demokratischen Umstürzen der kommunistischen Regimes wurden am KSZE-Sondergipfel von Paris 1990 die «Ergebnisse der Wende» festgeschrieben und ein neues Zeitalter der gesamteuropäischen Zusammenarbeit eingeläutet. 1994 erfolgte schliesslich am Budapester Gipfeltreffen die Institutionalisierung der KSZE als Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Bis 2022 konnte die OSZE sich immer wieder in Konfliktsituationen einbringen. Durch Russlands Angriff auf die Ukraine liegt das Vermächtnis von Helsinki nun in Scherben. Die Schweiz, die weder Mitglied der UNO, noch der Europäischen Gemeinschaft war, konnte sich im KSZE-Prozess erstmals als eigenständiger und allseits respektierter Akteur in zentrale Fragen einbringen und eine gesamteuropäische Politik mitgestalten. Die KSZE markiert eine Abkehr vom helvetischen Sonderfalldenken und damit den eigentlichen Beginn einer Normalisierung der schweizerischen Aussenpolitik. In den Jahren 1996 und 2014 übernahm das Land als Vorsitzende der OSZE eine zentrale Rolle – 2026 wird die Schweiz die Organisation erneut präsidieren. Vielleicht kann die OSZE dereinst wieder ein Instrument einer gesamteuropäischen, auf der Gleichheit aller Staaten beruhenden Sicherheitspolitik werden. Dann wäre der 1. August vor 50 Jahren fürwahr einer der besten seit langem gewesen.

Gemein­sa­me Forschung

Der vorliegende Text ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen dem Schweizerischen Nationalmuseum und der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz. Inspiriert vom 50. Jahrestag der KSZE-Schlussakte von Helsinki und dem schweizerische OSZE-Vorsitz 2026 betreibt Dodis zurzeit Forschungen für zwei Publikationen zur Geschichte der KSZE/OSZE. Die im Text zitierten Dokumente und zahlreiche weitere Akten zum Thema sind online verfügbar.

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