
Europas erste Professorin
Anna Tumarkin wurde 1909 zur ersten regulären Universitätsprofessorin Europas ernannt. Sie lehrte während Jahrzehnten an der Universität Bern und war eine international anerkannte Akademikerin.
Am hochkarätig besetzten Kongress sprachen namhafte Philosophen aus Europa, den USA und Russland. Die Kongressteilnehmenden beschworen in Genf eine confraternité intellectuelle. Beherrschendes Thema war die «überragende Grösse Kants». Die Zusammenkunft wurde mit Festen, Ausflügen und Gedenkveranstaltungen bereichert. Unter den Zuhörenden befanden sich auffällig viele Frauen, insbesondere Mitglieder der jungen Union des femmes de Genève, die das Rückgrat der frühen Genfer und Schweizer Frauenbewegung bildeten. Unter den Vortragenden war Tumarkin jedoch die einzige echte Philosophin, die eine Rede hielt. Neben ihr hielt nur noch eine Literarin einen Vortrag.


Anna Tumarkin wurde 1875 im damaligen russischen Zarenreich geboren. Als Frau, Jüdin und Russin war ihr kein leichter Lebensweg vorbestimmt. Bereits früh entschlossen, ihr Leben der Philosophie und der Wissenschaft zu widmen, stiess sie auf hohe gesellschaftliche Hürden. Da europäische Hochschulen und amerikanische Eliteuniversitäten Frauen damals nicht oder nur selten aufnahmen, sah sich Tumarkin bereits im Alter von 17 Jahren gezwungen, ihre Heimatstadt Chisinau im heutigen Moldawien zu verlassen, um in der Schweiz studieren zu können. Das war dort ab den 1860er-Jahren unter bestimmten Bedingungen möglich, da die Schweiz im europäischen Vergleich eine progressive Haltung zur Frauenbildung hatte.


Während ihrer 45-jährigen Tätigkeit an der Universität Bern von 1898 bis 1943 wirkte sie als geschätzte Dozentin und später ausserordentliche Professorin der Philosophie. Ihr Schwerpunkt lag besonders auf der Ästhetik und der Erkenntnistheorie. In ihrem akademischen Wirken führte sie acht Studenten und fünf Studentinnen zum Doktortitel und begleitete zahlreiche weitere philosophische Arbeiten.


Tumarkins akademische Bedeutung zeigte sich nicht nur in ihrer Tätigkeit an der Universität Bern, sondern auch darin, dass sie als Rednerin an weiteren internationalen Philosophiekongressen (unter anderem 1908 und 1937) teilnahm. Trotz aller Widrigkeiten, denen sie als Frau, Migrantin und Akademikerin begegnete, hinterliess sie ein philosophisches Werk, das insbesondere durch ihre Analyse einer spezifisch schweizerischen Philosophie bis heute nachwirkt.
Anna Tumarkins Biografie
Franziska Rogger ist eine Tumarkin-Expertin. Ihre 500-seitige Biografie «Anna Tumarkin. Das schicksalhafte Leben der ersten Professorin» ist Ende 2024 im Stämpfli Verlag erschienen.