500-Jahr-Feier der Schlacht bei Sempach 1386–1886 (Ausschnitt). Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern

Die Schweiz – eine histori­sche Spuren­su­che. Folge 2

Im 19. Jahrhundert entwickelt sich aus dem Obrigkeitsstaat des Ancien Régime ein demokratisch-freiheitlicher Verfassungsstaat. Der Agrarstaat wird zum Industriestaat. Im Gang ist nichts weniger als «die Verwandlung der Welt».

Kurt Messmer

Kurt Messmer

Kurt Messmer ist Historiker mit Schwerpunkt Geschichte im öffentlichen Raum.

Politische Revolutionen in Europa und Amerika erstreben am Ende des 18. Jahrhunderts Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte, Verfassung, Gewaltenteilung und Volksvertretungen. Ein Meilenstein der Geschichte, der zwei «logische» politische Kräfte hervorruft: Die einen wollen an der alten Ordnung festhalten, die Konservativen. Die andern kämpfen für den Durchbruch der neuen Ordnung, die Liberalen.

Gleichzeitig, allerdings mit tieferer Drehzahl, vollzieht sich eine andere enorme Umwälzung: die Industrielle Revolution. Ausgangspunkt: England. Spinnmaschine und mechanischer Webstuhl, Dampfmaschine, Eisenbahn. Die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Menschen waren bis anhin relativ konstant, über Jahrhunderte hinweg. Jetzt verändern sie sich von Grund auf. Die Welt verwandelt sich. Segen und Fluch zugleich. Unzählige Kinder, Frauen und Männer zahlen einen schrecklichen Preis für den Segen. Das ruft die Sozialisten auf den Plan. Sie setzen sich ein für menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen.

1798 und 1848 kämpfen Konservative und Liberale gegeneinander, 1918 miteinander gegen die Sozialisten. Aus politischen Lagern sind Klassen geworden: Arbeiterschaft gegen Bürgertum. – Wir setzen ein mit 1798, Helvetik, die Franzosen kommen.

Fremdbestimmt / Selbstbestimmt

«Die junge Saat der französischen Ideen», so ist im Grünen Heinrich nachzulesen, sei 1798 «durch einen ungeheuren Schneefall österreichischer, russischer und selbst französischer Quartierbilletts bedeckt worden», alsdann habe «die Meditationsverfassung einen gelinden Nachsommer gebracht». Gottfried Keller lässt jedoch im «Wahltag» den Friedensrichter klagen, es sei «bitterlich», dass «der Bonaparte das Gesetz machen musste, das ein altes Kriegs- und Freiheitsvolk selber nicht mehr zuweg bringen konnte».

Am Wiener Kongress 1815 wird die Neutralität nicht von den zerstrittenen Delegierten aus der Eidgenossenschaft erkämpft, sondern von den Grossmächten aufoktroyiert. Auch beim Beitritt zur restaurativen Heiligen Allianz hat die Tagsatzung 1817 keine Wahl. 1823 befiehlt Metternich den Kantonsvertretern, die liberale Presse an die Kandare zu nehmen, worauf die Tagsatzung den Befehl vollzieht, 1829 aber sang- und klanglos fallen lässt. Der Wind hat gedreht.

«ich will euch exerzieren ihr Heiligensagerment. rechts schwenkt euch [M]arrrsch!!» Karikatur von Zürcher Freischärlern 1845, aquarellierte Bleistiftzeichnung, versehen mit der Erklärung «Wie eine wohlorganisirte Freischaar ausziehen thät». Gottfried Keller als Tambour, der Zeichner Johannes Ruff (1813–1886) als Mitstreiter, in der Hand eine Flasche Salpetersäure, «Scheidwasser», mit dem sich auch gegensätzliche politische Ideen trennen lassen. Auf der Fahne ein überschäumender Bierkrug. – Wohltuende Selbstironie in den politisch und religiös aufgeladenen 1840er Jahren.
Zentralbibliothek Zürich / Wikimedia

Als die Liberalen im Winter 1830/31 in zehn Kantonen des Mittellandes einen politischen Umschwung herbeiführen, unblutig, Verfassungen und Freiheitsrechte fordern und auch erreichen, hat das mit Fremdbestimmung nichts mehr zu tun. Auch die Bundesverfassung von 1848, inspiriert von den USA, ist Selbstbestimmung, europaweit als demokratischer Durchbruch singulär, grossartig. – Kam in der Schweiz «immer schon alles von aussen», oder haben wir «immer schon alles aus eigener Kraft erreicht»? Es gibt weit bessere Fragen.

Konservative / Liberale

Die 1840er-Jahre, können wir uns das überhaupt noch vorstellen? Konservativer Umsturz in Zürich und Luzern. Im Gegenzug siegen die Liberalen im Aargau und heben alle Klöster auf. Zweimal ziehen liberale Freischärler gegen Luzern. Die Konservativen antworten mit dem Sonderbund und der Berufung der Jesuiten. Krieg! Die konzentrischen Angriffe der liberalen Tagsatzungstruppen auf Freiburg und Luzern fordern hundert Tote, ein Viertel der Opfer Konservative, drei Viertel Liberale. Eine traumatische Erfahrung hüben und drüben. Doch der Weg ist frei für die Bundesverfassung und das Zweikammersystem. Das Werk vieler. Hervorzuheben: Ignaz Paul Vital Troxler (1780–1866) und Melchior Diethelm (1800–1873), beides Liberale aus unterlegenen konservativen Sonderbundskantonen, Luzern und Schwyz. Geht’s noch «eidgenössischer»?

Allerdings werden die ersten 43 Jahre nur Liberale in den Bundesrat gewählt, die Katholisch-Konservativen weggesperrt. Doch sie haben einen Trumpf. Ihre grandiose Landschaft rund um den Vierwaldstättersee wird zur Theaterkulisse für die Inszenierung der mythisch heroischen Ursprünge der Eidgenossenschaft. Geschichte(n) im Massstab 1:1.

500-Jahr-Feier der Schlacht bei Sempach 1386–1886. Liberale und Konservative versöhnen sich am «Altar der vaterländischen Geschichte». Im Festspiel wird der Opfertod von Winkelried religiös überhöht und dem Opfertod von Christus gleichgesetzt.
Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern

Auftritt Winkelried. Die Jubiläumsfeier von Sempach wird 1886 zu einer überwältigenden patriotischen Landsgemeinde. 30‘000 Menschen aus allen Teilen der Schweiz, viele mit Extrazügen angereist, nehmen an dieser «Wallfahrt zum Gnadenort Sempach» teil. Am Schluss der «Siegesfeier der Freiheit» steigen Knaben in den Farben der 22 Kantone die Altarstufen hinauf und legen Kränze nieder am Fusse des riesigen weissen Sargs mit der Winkelriedfigur. Der Gedenkanlass gerät zu einer einzigen nationalen Versöhnungsfeier zwischen Liberalen und Konservativen. Die Inkubation der Konkordanz. Zutritt zum monumentalen Sarg Winkelrieds haben nur die Witwe und die Waisen des Nationalheroen. «Sorget für mein Weib und meine Kinder.» Die Inkubation der AHV.

Bürgertum / Arbeiterschaft

1914. Der «Burgfriede» bröckelt rasch. Getreidevorrat hat die Schweiz bloss für zwei Monate, denn der deutsche Kaiser versichert im August: «Wenn die Blätter fallen, sind wir wieder bei Muttern.» Die Rechnung ohne Verdun gemacht, menschenverachtend. In der Schweiz leisten die Soldaten im Durchschnitt 500 Diensttage – ohne Lohnersatz, und der Lohn fällt real erst noch um 30 Prozent. 1918. In Basel ist ein Sechstel der Bevölkerung notstandsberechtigt. Landesstreik, Armeeaufgebot. Für Ruhe und Ordnung sollen im reformierten Zürich auch Luzerner Truppen sorgen, viele von ihnen katholische Bauern, je ein Bataillon aus Sursee, Willisau und dem Entlebuch. 110‘000 Soldaten gegen 250‘000 Streikende. Maschinengewehre, dazu der Befehl, bei Bedarf Handgranaten in Kellerräume zu werfen.

Nach drei Tagen die Kapitulation der Streikleitung. «Es ist zum Heulen! Niemals ist schmählicher ein Streik zusammengebrochen», schreibt Ernst Nobs (1886–1957) im «Volksrecht». Kapituliert: ja. Verloren? Bereits im Juni 1918 wird per Bundesgesetz die 48-Stunden-Woche eingeführt – eine Forderung der Streikleitung. Im Oktober 1919 werden vorgezogene Nationalratswahlen durchgeführt, zwei Jahre vor dem Termin, neu nach dem Proporz – eine Forderung der Streikleitung. Die Sozialdemokraten verdoppeln ihre Sitzzahl von 20 auf 41. Ein erster Anlauf zur AHV, auch das eine Forderung der Streikleitung, scheitert zwar 1931 noch klar. 1947 aber wird die Vorlage haushoch angenommen, mit 80 Prozent Ja. Der ehemalige Volksrecht-Redaktor Nobs ist bereits im Bundesrat, als erster Sozialdemokrat. Kann es sein, dass in der Schweiz, aus Distanz betrachtet, oft fast alle gewinnen?

Plakat der Sozialdemokraten für die vorgezogenen Nationalratswahlen 1919: Nach dem Landesstreik setzt ein Angehöriger der Armee gewaltbereit über den ohnmächtigen Arbeiter hinweg. Dessen Fäuste bleiben geballt.

Plakat der Sozialdemoraten für die Nationalratswahlen 1939: Nach der Machtergreifung der Nazis 1933 ist die Armee nicht mehr Klassenfeind, sondern Garant für Freiheit und Wohlfahrt der kleinen Leute.

Die Schweiz – eine histori­sche Spurensuche

Verfolgen Sie in der letzten Folge 3 die Spurensuche entlang der Bruchlinien:

DEUTSCH / WELSCH
MÄNNER / FRAUEN
INLÄNDER / AUSLÄNDER
KONFRONTATION / KONKORDANZ
WEISSWÄSCHE / SCHWARZMALEREI

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