Abweisung und Bespitzelung
Trotz aller Sympathie für die erdrückende Situation im Zarenreich sorgte das politische Engagement der russischen Revolutionäre und jungen Studierenden in der Schweiz auch immer wieder für Unmut.
Robert Grimm erinnerte sich rückblickend mit den Worten: «In Bern hausten die russischen Studenten [...] in der Länggasse. Mit ihrem Einzug flauten die Sympathien der Bevölkerung merklich ab. Ärmlich gekleidet, aus den ganz anders gearteten Verhältnissen in das kleinbürgerliche Bern verpflanzt, intellektuell und wissensdurstig, lebhaft und politisch stark interessiert, passten ihre Gewohnheiten wenig in die ruhige Lebensart der Berner Familien.» Während sich in den Universitätsstädten stets zahlreiche Vermieter fanden, die die Studierenden in ihren Gästezimmern aufnahmen, wehrten sich andere lautstark gegen die Präsenz von zu vielen «Slawen» und «Ostjuden». Im Anzeiger für die Stadt Bern fanden sich immer wieder Zimmerannoncen mit dem expliziten Vermerk «Keine Russen».
Bei einigen waren die Berührungsängste womöglich auch durch Erinnerungen an jene Russinnen und Russen geschürt worden, die zu dieser Zeit in der Schweiz Attentate gegen hohe Beamte des Zarenreichs geplant oder sogar durchgeführt hatten, wie jenes von Tatjana Leontewa, die am 1. September 1906 im Grandhotel Jungfrau in Interlaken fälschlicherweise einen elsässischen Rentner anstelle des ehemaligen russischen Innenministers ermordet hatte. Die schweizerische Zeitschrift Nebelspalter veröffentlichte daraufhin eine Karikatur, die auf die fatale Verwechslung direkt Bezug nahm und Schweizer Bürgern empfahl, Namensschilder zu tragen oder eine Tafel umzuhängen, auf der sie bezeugten, dass ihre Namen weder auf «-inski» noch auf «-witsch» oder «-offski» endeten.
Die russischen Behörden hatten die revolutionäre Emigration schon länger im Visier, doch nach solchen Aktionen intensivierten sie ihre Beobachtungen und infiltrierten die revolutionären Kreise mit Spitzeln. Auch die Schweizer Behörden unternahmen fortan einige Anstrengungen, über die Aktivitäten der Russinnen und Russen auf dem Laufenden zu bleiben. Sie liessen die revolutionären Emigranten teils genauestens beobachten, ihre Exilpresse von Fachleuten übersetzen und beurteilen oder fingen Telegramme ab. In vereinzelten Fällen arbeitete die Bundesanwaltschaft auch mit russischen Polizeibehörden zusammen. Als die bekannte Revolutionärin und tragende Säule der Zimmerwalder Bewegung Angelika Balabanowa wegen revolutionärer Agitationsarbeit 1906 aus dem Kanton Waadt ausgewiesen wurde, holte die schweizerische Bundesanwaltschaft im Vorfeld Informationen beim russischen Innenministerium über sie ein.
Auch in der Schweizer Presse wurde der Ton gegenüber den vielen Russen zunehmend gehässiger. So schrieb die Berner Volkszeitung im Dezember 1906, dass die «Klagen über die Russenplage» nicht mehr zu überhören seien. Die Revolutionäre reagierten ihrerseits auf die wachsende Aufmerksamkeit und die zunehmende Observation mit den ihnen vertrauten konspirativen Verhaltensweisen. Sie hinterliessen möglichst wenige schriftliche Zeugnisse, gaben ihre Presseorgane unter ständig wechselnden Namen heraus, führten Pseudonyme und Briefkastenadressen und unterhielten über ein eigenes grenzüberschreitendes Netz an Kurieren und Informanten geheime Verbindungen zu Vertrauensleuten in Russland. Cecilia Bobrowskaja schildert in ihren autobiografischen Aufzeichnungen eindrücklich, wie lange Listen an geheimen Parolen, Kennworten und Adressen auswendig gelernt werden mussten. «Ich werde nie vergessen, wie wir, wie Gymnasiastinnen auf und ab gehend, uns ganz ernsthaft einpaukten: [...] Parole: ‹Wir sind die Schwalben des nahenden Frühlings›. Oder: [...] Parole: ‹Die Singvögel haben mich zu Ihnen gesandt›. Antwort: ‹Seid mir willkommen›.»