«Vier Szenen aus dem Leben des Tang-Dichters Bai Juyi». Chen Hongshou (1598–1652), China, Qing-Dynastie, datiert 1649. Tusche und Farben auf Seide. Foto: Museum Rietberg Zürich, Geschenk Charles A. Drenowatz

China – Renais­sance einer alten Weltmacht

China ist die erste neu-alte Weltmacht. Bis anhin ist deren Wiederaufstieg bemerkenswerterweise ohne Krieg erfolgt. Asienexperte Urs Schöttli zur Renaissance des Reiches der Mitte.

Urs Schöttli

Urs Schöttli

Geboren 1948 in Basel. Studium der Philosophe. 1978 bis 1991 Generalsekretär und später Geschäftsführender Vizepräsident der Liberalen Internationalen. 1983 bis 1989 Südasienkorrespondent der NZZ in Delhi. 1990 bis 1995 Repräsentant der deutschen Friedrich Naumann Stiftung in Spanien und Portugal. 1996 bis 2012 Korrespondent der NZZ in Hong Kong, Tokyo und Beijing. Seit 2012 unabhängiger Asienberater. Verfasser mehrerer Bücher zu asiatischen Themen, u.a. «Die neuen Asiaten. Ein Generationenwechsel und seine Folgen».

Historische Zäsuren können wegen monumentaler Ereignisse ins kollektive Bewusstsein eingehen. Man denke etwa an den emblematischen Fall der Berliner Mauer. Häufig werden sich die meisten Menschen indessen erst im Nachhinein bewusst, dass sie Zeitzeugen eines weltgeschichtlich relevanten Aufbruchs sind. Einen solchen erleben wir derzeit. Mit immer rascheren Schritten vollzieht sich die Ablösung der Vereinigten Staaten als vorrangige Weltmacht durch die Volksrepublik China. Der Aufstieg des neu-alten Hegemons China und der «imperial overstretch» der USA sind schon seit dem Beginn des dritten Millenniums im Gange. Doch seit der Amtsübernahme von Xi Jinping (in 2012/13) und Donald Trump 2017 hat sich die Entwicklung noch beschleunigt und stehen die Perspektiven für die kommenden Jahre deutlicher denn zuvor im Raum.

Ein Blick über die vergangenen zwei Jahrhunderte verschafft markante Konturen für die Gefahren, die jeder Verschiebung zwischen den tektonischen Platten von rivalisierenden Mächten innewohnen. In der Regel ist es jedes Mal, wenn eine neue, aufstrebende Macht ihren «Platz an der Sonne» beanspruchte, zu grossen Kriegen gekommen. Dies war bei Napoleon der Fall, bei Bismarcks Deutschem Reich, bei Hitlers Drittem Reich und beim japanischen Imperium. Umgekehrt haben auch der Zerfall, beziehungsweise der terminale Niedergang von Weltmächten zu grossen Verwerfungen geführt. Wir denken an den Untergang des «British Empire» und hier vor allem an die «Partition» auf dem Indischen Subkontinent. Wir denken an den Zerfall der Sowjetunion.

Berechtigterweise steht deshalb die Frage im Raum, wie gefährlich der Aufstieg Chinas und der Abstieg der USA für die bestehende Weltordnung sind. Zu bedenken ist dabei, dass wir es im Falle Chinas zum ersten Mal mit einer neu-alten Weltmacht zu tun haben. Das Reich der Mitte war, bevor es für zwei Jahrhunderte dank selbst- und fremdverschuldeter Verwundungen marginalisiert worden ist, während rund 1500 Jahren eine hegemoniale Macht gewesen, während beispielsweise das Deutschland Wilhelms II ein typischer imperialer Emporkömmling war.

Bis anhin ist die Renaissance Chinas bemerkenswerterweise ohne Krieg erfolgt. Der grosse Staatsmann und Pragmatiker Deng Xiaoping, der die sozio-ökonmische Modernisierung und Öffnung der Volksrepublik vorangetrieben hat, hatte seine Landsleute stets dazu angehalten «humble» zu sein und nicht den Versuchungen der Grossmannssucht zu verfallen. Er wusste nur allzu gut um die zahlreichen Achillesfersen, die ein durch den Pauperismus Mao Zedongs zutiefst beschädigtes China hatte – und teilweise noch immer hat.

Jedermann, der den rasanten wirtschaftlichen Wiederaufstieg Chinas im Verlaufe der vergangenen drei Jahrzehnte verfolgt oder gar miterlebt hat, musste sich von Anfang an bewusst sein, dass diese Haltung des «low profile» nicht für alle Zeiten vorhalten würde. Und in der Tat sind wir in jüngster Zeit Zeugen eines erheblich gesteigerten nationalen Selbstbewusstseins der chinesischen Eliten geworden. Wie in jedem Land, so finden wir selbstverständlich auch in China sehr unterschiedliche Einstellungen gegenüber Nationalismus und Kosmopolitismus. Nachdem das Reich der Mitte während des 19. und 20. Jahrhunderts gravierende Verwundungen und Erniedrigungen erlitten hat wie die beiden Opiumkriege, die Etablierung der fremden Konzessionen und die japanische Besetzung und Brutalisierung und nachdem das Land heute wieder die Spitzenstellung in der Weltwirtschaft einnimmt, war zu erwarten, dass die Fraktion der «Wir-sind-wieder-wer» Rückenwind erhalten würde.

Staats- und Parteichef Xi Jinping spielt die Karte der chinesischen Renaissance mit grossem Geschick. Indem er sich auf der Weltbühne staatsmännisch, besonnen und bar jeder maoistischen Revolutionsrhetorik gibt, untermauert er auch seine herausragende Stellung in der Innenpolitik. Es ist aufschlussreich sowohl für die derzeitige Verfassung des Westens als auch für Xis Selbstbewusstsein, dass dieser am Davos Forum 2017 als gewichtigster Fürsprecher einer liberalen internationalen Wirtschaftsordnung mit Freihandel und globalen Kapitalflüssen auftrat. Auch wenn kritische Beobachter angesichts der innerchinesischen Realitäten Xi des Zynismus bezichtigten, so ist doch bemerkenswert, dass 40 Jahre nach dem Tode Mao Zedongs, der den Kapitalisten mit dem «Krieg der Hütten gegen die Paläste» die Vernichtung angedroht hatte, der Generalsekretär der ideologisch stramm marxistischen KPC von der westlichen Wirtschafts-Schickeria zum Heilsbringer emporstilisiert wird.

Für die globale Ordnung ist es mit Sicherheit kein Schaden, wenn die volkreichste und bald wirtschaftsstärkste Nation der Welt ihren Einfluss in die internationalen Institutionen und Beziehungen in dem Masse einbringt, wie es ihrem Gewicht entspricht. Mit Sicherheit ist eine konstruktive Weltmacht viel besser als eine destruktive, ideologiebesessene Mittelmacht. Vor diesem Hintergrund teilen wir die Meinung derjenigen «Experten» nicht, die im asiatischen, im chinesischen Jahrhundert eine Renaissance des Kalten Kriegs an die Wand malen. Im Sinne des Pluralismus und der Multipolarität ist es durchaus auch ein Positivum, dass Beijing mit der Errichtung der Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB) die Monopolstellung der Bretton Woods Institutionen durchbrochen hat. 1997/98 anlässlich der damaligen «Asienkrise» hatte sich Japan von einem ähnlichen Schritt durch den Druck der etablierten westlichen Industriemächte abbringen lassen.

Lage- und Risikobeurteilungen sind stets problematisch, wenn sie einseitig nur die positiven Aspekte einer Entwicklung beleuchten. Selbstverständlich wird niemand, der bei Sinnen ist, nicht seine Hochachtung vor den historischen Leistungen der Volksrepublik China im Verlaufe der letzten drei Jahrzehnte bezeugen wollen. Allein schon die Tatsache, dass ein Milliardenvolk aus der grossen Armut und aus der Sklaverei befreit worden ist, verdient, zu den herausragenden Errungenschaften der Zivilisation gezählt zu werden.

Doch wäre es unaufrichtig, wenn man in der aktuellen Bilanz zum chinesischen Modernisierungs- und Öffnungsprozess nicht die Achillesfersen anführen würde, welche das chinesische Wirtschaftswunder verletzlich machen. Zunächst handelt es sich um den weiterhin ungelösten politischen Reformstau. Wir denken dabei in erster Linie nicht einmal an die Errichtung einer pluralistischen Demokratie, sondern an die Einführung des Rechtsstaats, eine Errungenschaft, die nicht zuletzt für die faire und effektive Umsetzung auch der Korruptionsbekämpfung, die Xi Jinping auf sein Banner geschrieben hat, unerlässlich ist.

Noch akuter ist die strukturelle Schwäche des chinesischen Finanz- und Bankensystems. Mangelnde Transparenz und massive Verzerrungen durch Staatseingriffe lasten auf dem Finanzektor. Wir denken dabei nicht nur an die gewaltige Last von faulen Krediten, die in den Büchern der grossen chinesischen Staatsbanken verzeichnet ist. Wir denken auch an das fehlende Vertrauen der Bevölkerung in ihre eigene Währung und wir denken natürlich vor allem auch an die fehlende «due diligence» bei den an der chinesischen Börse gelisteten Unternehmen. Niemand weiss da wirklich, welches der wahre Wert dieser Unternehmen ist.

China hat gewaltige Substanz, mit diesen Strukturschwächen zurande zu kommen, auch wenn selbstverständlich eine grundlegende Reform kostengünstiger und zukunftsträchtiger sein würde. Mehr Sorge muss bereiten, dass die chinesische Führung, die im Fall einer ernsten Wirtschaftskrise unter den Druck von maoistischen und nationalistischen Kräften geraten würde (Populismus ist keine Exklusivität des Westens!), ihre bisherige geopolitische Vorsicht über Bord wirft. Vor allem im Raum des Südchinesischen Meers gibt es derzeit Anzeichen dafür. Noch viel verheerender wäre es, wenn sich China auf Konfrontationkurs mit Taiwan und Japan setzen würde. Auch im asiatischen Jahrhundert gilt, was für viele Kriege im Westen gegolten hat: es fällt leicht, einen Krieg auszulösen, und häufig entwickelt sich eine Eigendynamik, die gegen jede Vernunft und wider besseres Wissen einen Krieg ausbrechen lässt.

TLV-Spiegel mit Darstellung der idealen kosmischen Ordnung. China, Frühe Östliche Han-Dynastie, 1. Jh. Bronze. Foto: Museum Rietberg Zürich, Legat Charlotte Holliger-Hasler

Die Natur als Vorbild der menschlichen Gesellschaftsordnung. «Nebel zieht in die Bergtäler». Mo Shilong (1537-1587), China, Ming-Dynastie, 16. Jh. Tusche und leichte Farben auf Papier. Foto: Museum Rietberg Zürich, Geschenk Charles A. Drenowatz

Das ideal des hochgebildeten, kunstsinnigen Beamten. Detail aus der Bildrolle; «Vier Szenen aus dem Leben des Tang-Dichters Bai Juyi». Chen Hongshou (1598–1652), China, Qing-Dynastie, datiert 1649. Tusche und Farben auf Seide. Foto: Museum Rietberg Zürich, Geschenk Charles A. Drenowatz

Propagandaplakat aus der Kulturrevolution. Nehme den Kampf mit dem Pinsel auf, kämpfe bis zum Ende. Xiao Zhenya und Liu Enbin, China, Mitte 20. Jh. Foto: Museum Rietberg Zürich

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