Der Nationalfeiertag: unveränderbar im Kalender, veränderbar im Kopf
Was in drei Eidgenossen Namen kann falsch sein, wenn 83,8% der Stimmenden eine Volksinitiative annehmen? So geschehen am 26. September 1993, als der 1. August mit einem Rekord-Mehr zum arbeitsfreien Nationalfeiertag erklärt wurde. Nie entschied das Schweizer Volk deutlicher.
Abgestützt auf die Verfassung, steht der 1. August unverrückbar wie die Alpen. Fachhistorisch ist er aber auf Sand gebaut. Im Vorfeld des Jubiläumsjahrs 1991 griffen die Initianten ohne Wenn und Aber auf den Wissensstand von 1891 zurück. Was sind schon hundert Jahre Geschichtsforschung? In der Kuppelhalle des Bundeshauses stehen als steinerne Zeugen Werner Stauffacher, Walter Fürst und Arnold von Melchtal. Auf einem mächtigen Sockel entrückt, unnahbar, die Mienen ernst, halten sie mit feierlicher Strenge schützend ihre Hände über den Bundesbrief. Kein Zweifel: Das ist ein steingewordener Staatsakt, hier wird ein Staat gegründet – sozusagen in Permanenz.
Geschichte lebt von der Frage nach der Herkunft. So gesehen hat die Bundesfeier zwei Vorfahren, zum einen die alten Schlachtjahrzeiten, die bis ins Spätmittelalter zurückreichen, zum andern die jungen Bundesbeitrittsfeiern. Den Anfang machte Zürich 1851 mit der 500-Jahr-Feier des Bundes mit den Waldstätten. Diese schlugen die Einladung an die Limmat jedoch aus. Vier Jahre nach der Niederlage im Sonderbundskrieg mochten sie mit den Siegern weder festen noch den Bund feiern.
Der junge Staat von 1848 brauchte alte Geschichten. Seine mythischen Erzählungen inszenierte er in der realen Landschaft. Am Eingang zum Urnersee errichteten die Urkantone 1859 «Dem Sänger Tells», Friedrich Schiller (1759–1805), ein imposantes Denkmal, für das nur goldene Lettern erforderlich waren. Den Rest bot die Natur. Ein Fels, der am Ufer 40 Meter aus dem Wasser ragte, wurde aus Vorsicht verkleinert auf gefahrlose 20 Meter. Das nahe Rütli, im sogenannten Bundesbrief von 1291 mit keinem Wort erwähnt, erklärte man 1860 zum «unveräusserlichen Nationaleigentum». Auf der anderen Seeseite, bei Sisikon, wurde 1879 eine neue Tellskapelle gebaut. Der Urner Landrat erhob den einstigen Bittgang hierher im Jahre 1884 offiziell zur Landeswallfahrt. Religiöse Überhöhung eines mythischen Retters.
Damit war das Feld bereitet für die Versöhnung der politischen Lager. Am «Altar der vaterländischen Geschichte» reichten sich Liberale und Konservative 1886 im Rahmen der 500-Jahr-Feier der Schlacht bei Sempach die Hand. Der Grundstein zur schweizerischen Konkordanz war gelegt. Knapp zehn Jahre nach dem ersten eidgenössischen Fabrikgesetz von 1877 wurde in Sempach auch die soziale Schweiz bekräftigt. Nur Winkelrieds Familie durfte sich im Festspiel seinem monumentalen Sarg mit der Aufschrift «Sorget für mein Weib und meine Kinder» nähern. Aus einer lokalen Totenfeier war eine nationale Triumphfeier geworden.
1891 wurde der 1. August ausdrücklich als Jahrhundert-Feier begangen. Zur jährlichen Wiederholung kam es erst ab 1899. Auslandschweizer hatten eine Art «Quatorze Juillet» angeregt. Der Bundesrat forderte in der Folge die Kantone auf, am Abend des 1. August die Kirchenglocken läuten zu lassen. Rund hundert Jahre blieb der Nationalfeiertag ein Werktag. Das entsprach dem Selbstverständnis einer nüchternen, geschäftstüchtigen Gesellschaft.
Bleibt die Frage, welche Bedeutung der 1. August fachhistorisch hat. Der sogenannte Bundesbrief von 1291 war ein Landfriedensbündnis, wie es im 13. und 14. Jahrhundert Dutzende gab. Von Freiheit kein Wort, im Gegenteil. Die Unfreiheit wurde geschützt, wie der dritte Artikel unmissverständlich belegt: «Dies in der Meinung, dass jedermann gemäss dem Stande seiner Familie seinem Herrn nach Gebühr untertan sein und dienen soll.» Keine Revolution also, sondern eine Restauration. In der Urkunde steht das Datum 1291, aber erstens wird darin auf einen unbekannten früheren Brief verwiesen, zweitens spricht viel für eine Neuausfertigung 1309, rückdatiert auf 1291. Die Urkunde würde in jene unsichere Zeit passen: 1309 entbrannte ein Erbstreit um die bedeutende Herrschaft Rapperswil, im gleichen Jahr wurde die Reichsvogtei Waldstätte errichtet. Anlass genug, sich gegenseitig Hilfe zu versprechen. Für eine Datierung hilft auch die C14-Methode kaum. Mit einer Gewähr von 85 % sagt die exakte Wissenschaft bloss, der Brief sei zwischen 1252 und 1312 ausgestellt worden. Wie bedeutend konnte übrigens ein Dokument sein, das Jahrhunderte lang physisch nicht greifbar war? Erst 1724 kam der sogenannte Bundesbrief in einer Archivregistratur in Schwyz wieder zum Vorschein. Die nächsten hundert Jahre war er nur Archivaren und Fachleuten bekannt.
Ein Blickwechsel ist angesagt. Die alte Eidgenossenschaft wurde weder 1291 noch zu einem bestimmten Datum gegründet, sondern im 15. Jahrhundert errungen. Es gibt gute Gründe, die Schweiz zu lieben, zu feiern, ja hochleben zu lassen. Auch künftige Bundesfeiern können steigen. Aber Geschichte und Geschichten sollte man auseinander halten. Es gibt ohnehin nur etwas, das spannender ist als Geschichte: die Geschichte der Geschichte.
Historische Fabrik
In einer losen Serie setzt sich Professor Kurt Messmer in die Historische Fabrik und «schraubt» alte Daten neu zusammen. Seit Jahrzehnten beschäftigt sich der Zentralschweizer mit den Geschichten hinter der Geschichte. Die Resultate seiner «Schichten» in der Fabrik sind spannend, manchmal irritierend und ab und zu revolutionär.
Die weiteren Folgen:
Sempach, Wien/Zürich – So geht Geschichte. Ein Lehrstück
3. September 1865/2017
Historische Fabrik Stans, Dorfplatz
Geschichte ‘raus, Mythos ‘rein
17. Oktober 1937/2017
Historische Fabrik Küssnacht, Hohle Gasse
Ein Bild sagt mehr als 1315 Worte
15. November 1315/2017
Historische Fabrik Schwyz, Rathaus
Das usserwelte Volk Gottes im Zentrum der Welt, nämlich wir
31. Dezember 1479/2017
Historische Fabrik Einsiedeln, Kloster
Geschäft und Geschichte. Der Chronist bezahlt die Zeche
5. Januar 1477/2018
Historische Fabrik Bern, Ratsstube