Gute Verbote – schlechte Verbote?
Was bringen Verbote einer Gesellschaft? Eine philosophische Betrachtung.
Vor 400 Jahren, am 23. August 1617, wurde in London die erste Einbahnstrasse der Neuzeit eingerichtet. Zwar gab es solche Strassen vermutlich bereits im antiken Rom, wo der Einwegverkehr die von Kutschen und Wagen verstopften Gassen befreien sollte. Dennoch gilt London als Vorbild für die moderne Einbahnstrasse, die in vielen Metropolen bis heute zur Kanalisierung des Verkehrs und damit für die effiziente Nutzung des begrenzten Raums eingesetzt wird.
Die Einbahnstrasse ist zwar ärgerlich für denjenigen, der eine bestimmte Adresse sucht und sein Ziel in kafkaesken Schlaufen umkreist, anstatt schnurstracks darauf zufahren zu können. Doch unter dem Strich haben selbst Nerv tötende Verkehrsverbote eine hohe Akzeptanz. Denn sie dienen exemplarisch dem, wodurch Verbote in einer liberalen Gesellschaft berechtigt sind: Nämlich der Beförderung grösstmöglicher Sicherheit Aller bei Wahrung grösstmöglicher Freiheit Aller. Autolenker, Fahrradfahrerinnen, Lastwagenchauffeure, Taxibesitzerinnen und E-Biker – sie alle wollen schnell und sicher an ihr Ziel gelangen. Dazu braucht es zweifelsohne Regeln, denn parken Autofahrer ihre Wagen auf der Strasse, ist kein Durchkommen mehr; und hält nicht eine Ampel den Verkehr flüssig, droht der Stau. Verbote braucht es allerdings auch, weil der Mensch dazu tendiert, sich selber zu überschätzen: Er meint, auch mit 150 die Kurve zu kriegen, und noch im engsten Tunnel schnittig überholen zu können. Und wer sich im Verkehr nicht im Griff hat, gefährdet letztlich Andere.
Das gilt aber nicht für alle Bereiche der Gesellschaft - und dennoch massregeln wir einander zuweilen mit Verboten. Das neuste Beispiel ist die Diskussion um eine Zuckersteuer: Mein Zuckerkonsum gefährdet keinen, und dennoch will man mich zum Masshalten erziehen. Und weil staatliche Bevormundung in unserer liberalen Gesellschaft einen schalen Beigeschmack hat, kaschieren wir den entsprechenden Paternalismus gerne liebevoll als «Nudges», kleine Anstupser, die uns zum richtigen Leben motivieren sollen. In der «Muttikratie» ist das Salatbuffet in der Kantine absichtlich gleich beim Eingang drapiert, bevor im hinteren Teil die fettgesättigten Würste locken; das Fitnessabo wird grosszügig von der Krankenkasse übernommen; und wer seine Organe nicht spenden will, muss dies beispielsweise in Österreich per Ausweis zu erkennen geben – wer will denn gleich so egoistisch sein?
Diese kleinen Motivationsspritzen, sich selber und Anderen Gutes zu tun, mögen durchaus von gesamtgesellschaftlichem Nutzen sein. Gesunde Mitbürgerinnen und Mitbürger belasten den gemeinsamen Haushalt weniger. Und doch dienen die entsprechenden Anstupser und Verbote nicht so klar wie Verkehrsregeln der Verteidigung der grösstmöglichen Freiheit Aller bei gleichzeitig grösstmöglicher Sicherheit, sondern sie greifen tief in unsere persönliche Freiheit ein, unser Leben nach eigenem Gutdünken zu gestalten. Damit sind sie einem stärkeren Rechtfertigungsdruck ausgeliefert. Vor allem aber entlassen sie uns ein Stück weit aus der Notwendigkeit, eigenverantwortlich zu handeln und solidarisch zu agieren: Wir sammeln den Müll nach dem Picknick im Wald schön brav ein, weil wir sonst gebüsst werden könnten, nicht weil uns die Natur am Herzen liegt. Die Musik stellen wir leiser, weil die Lärmschutzverordnung uns dazu zwingt, nicht weil es gegenüber meinem Nachbarn rücksichtslos wäre, nachts um zwölf auf dem Balkon AC/DC zu hören.
Verbote sollten nicht zu Denk- und Lebensstilverboten werden. Ebenso wenig dürfen sie Verantwortungsdelegation bewirken, sondern sollten maximale Freiheit und gleich lange Spiesse ermöglichen. Auf der Strasse wie im sonstigen Zusammenleben. Eine übertriebene Verbotskultur führt die Freiheit nicht nur in eine Einbahnstrasse, sondern in eine Sackgasse. Oder wie der amerikanische Staatsmann Benjamin Franklin einst sagte: «Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, der wird am Ende beides verlieren.»