Ein Leben für die Tracht
Julie Heierli war und ist die bedeutendste Trachtenforscherin der Schweiz. Vor rund 120 Jahren begründete sie die Trachtensammlung des gerade entstehenden Landesmuseums.
Wer sich in der Schweiz mit Trachtenforschung beschäftigt, kommt an einer Frau nicht vorbei: Julie Heierli (1859–1938). Die Ethnologin hat ab den 1880er-Jahren in mühevoller Feldarbeit die Trachten der Schweiz gesammelt und erforscht. Und dies gerade noch rechtzeitig, denn die traditionelle Kleidung drohte aus den Bauernhäusern, Kirchen und Arbeitslokalen zu verschwinden. Trachten oder mindestens Teile davon waren die ursprüngliche Kleidung der Landbevölkerung. Doch durch die Industrialisierung und deren neuen Stoffe und Herstellungsmethoden glich sich die Kleidung auf dem Land immer mehr der modernen, städtischen Mode an. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts erlebte die Tracht eine Renaissance, auch dank der Arbeit von Julie Heierli, und entwickelte sich schliesslich zum ultimativen Symbol der Heimat.
Julie Heierli wurde 1859 in San Francisco als Tochter eines ausgewanderten Zürchers geboren. Nach kurzer Zeit kehrte die Familie in die Schweiz zurück, wo Julie in einem Modegeschäft in Zürich als Modistin arbeitete. 1882 heiratete sie den Urgeschichtshistoriker Jakob Heierli. Sie begleitete ihren Gatten auf seinen Studien- und Forschungsreisen. Julie Heierli begann, sich mit Brauchtum zu beschäftigten, begab sich von Gemeinde zu Gemeinde, liess sich Trachten zeigen, rettete vereinzelte Stücke, sicherte Erinnerungen von Zeitzeugen und sammelte Abbildungen. Die Trachtenforscherin ging dabei stets wissenschaftlich vor. Sie legte grösste Sorgfalt auf die korrekte Terminologie und die Art und Weise, wie Trachten getragen werden.
Wer sich mit einer Tracht auskennt, kann an ihr ablesen, woher die Trägerin kommt, ob sie verheiratet, verwitwet, verlobt ist, in welchen wirtschaftlichen Verhältnissen sie lebt und welche Stellung sie in der Gesellschaft einnimmt. Doch die Zusammensetzung der Trachten war nicht immer so klar und reglementiert, wie sie es heute ist. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, im Geiste des Historismus, wurden Trachten neu entdeckt. Sie sind Ausdruck der Sehnsucht nach einer Welt, die noch in Ordnung ist, als Gegenentwurf zur städtischen Moderne. Die oftmals frei zusammengesetzten und angepassten Trachten wurden als authentisch und ursprünglich (miss)verstanden. Die Wurzeln wurden schlicht neu erfunden, wie die Literatur- und Modewissenschafterin Barbara Vinken in ihrem Beitrag im Katalog zur Ausstellung «Die Pracht der Tracht» des Kunstmuseum Solothurn schreibt. Mit der Tracht wurde die Berglandschaft als heile Welt im Gegensatz zur dekadenten Stadt wahrgenommen.
Als in den 1890er-Jahren das Landesmuseum Zürich aufgebaut wurde, war Julie Heierli für die erste Präsentation der Trachtensammlung zuständig. Insgesamt war sie nahezu 50 Jahre für das Landesmuseum tätig. In dieser Zeit baute Julie Heierli dort die umfassendste Trachtensammlung der Schweiz auf. Am Festumzug zur Eröffnungsfeier des Landesmuseum 1898 präsentierten sich Trachtengruppen aus den verschiedenen Kantonen. Das zeigt, wie wichtig die Trachten zu dieser Zeit für das Selbstverständnis der Schweiz geworden waren. Doch was damals noch verspielt und locker daher kam, wurde in den 1930er-Jahren ernst. Ernst Laur-Bösch (1896–1968) amtete ab 1931 für drei Jahrzehnte als Präsident der Schweizerischen Trachtenvereinigung. Unter ihm wurde das Trachtenwesen institutionalisiert und geordnet. Die sogenannte «Trachtenzucht» wurde peinlichst überwacht, alles «falsche» Tragen autoritär unterbunden. Im Zuge der geistigen Landesverteidigung wurde die Tracht zum patriotischen Symbol, sie vermittelte Bodenständigkeit, Heimatliebe und Echtheit. Für Laur-Bösch war die Tracht alles andere als eine Verkleidung. Sie bedeutete für ihn und seine Zeitgenossen die Rückkehr zum Ursprung, der sich auch im Charakter äussern musste. Bis 1961, dem Ende Laur-Böschs Amtszeit, wehrte sich die Trachtenvereinigung gegen gefärbte Haare, das Rauchen und das Schminken beim Tragen der Tracht.
Julie Heierli erlebte diesen Wandel nicht mehr. Sie starb 1938 kurz nach ihrem 79. Geburtstag an einem Herzschlag während einem Ferienaufenthalt im Schwarzwald. Ihr Lebenswerk, die mehrbändige Publikation «Die Volkstrachten der Schweiz», hatte sie sechs Jahre zuvor vollendet. Es ist bis heute ein Referenzwerk und die umfassendste und historisch fundierteste Arbeit zum Thema Trachten. Im Nachruf schreibt die NZZ am 17. August 1938, Julie Heierli habe mit ihrer Arbeit «nicht nur sich selbst, sondern auch dem schweizerischen Bauerntum ein unvergängliches Denkmal gesetzt.»
Die Pracht der Tracht
Das Kunstmuseum Solothurn widmete der Schweizer Tracht in Kunst und Kunstgewerbe 2018 eine umfassende Ausstellung. Zu sehen waren viele Leihgaben aus der Sammlung des Schweizerischen Nationalmuseums, darunter einige aus der Zeit von Julie Heierli. Die Ausstellung wurde von einer Publikation begleitet.