«Geist unserer Zeit», David Hess, 1831.
Zentralbibliothek Zürich, e-rara (Ausschnitt)

«Aufruf zur Freyheit ist Rebellion und Meüterey»

Wie viel Sprengkraft die liberalen Freiheitsrechte hatten, zeigt die Schärfe, mit der sie von den Konservativen bekämpft wurden. Es wimmelt hier von listigen Volksverführern und schauerlichen Ungeheuern.

Kurt Messmer

Kurt Messmer

Kurt Messmer ist Historiker mit Schwerpunkt Geschichte im öffentlichen Raum.

Wem denn sonst?! Einem «Volksfreund» sollte man trauen dürfen, es sei denn, dieser gebe nur vor, einer zu sein. Solche «Volksfreunde» waren – nach Ansicht der Konservativen – die Anhänger der Französischen Revolution, der Helvetik, der Freiheitsrechte: die Liberalen.

Helvetische Kreide gefressen

Falsch und gefährlich waren die Liberalen, weil sie sich als Schafe ausgaben, wie ein unbekannter konservativer Zeichner festhielt. Auf seiner Darstellung vermag nämlich der Pelz des gerissenen Schafs (anklicken, um zu vergrössern) den Körper des bösen, arglistigen Wolfs nur notdürftig zu bedecken. Da hilft auch das zusätzliche Kopftuch von Rotkäppchen nicht, mit dem sich der Wolf zu verkleiden versucht. Selbst der Kopf des Lamms, den der Wolf auf einem Stab voranträgt, verfehlt seine Wirkung als Symbol vollendeter Unschuld. Der Wolf ist entlarvt, punktum. Die Botschaften auf dem Spruchband – Liberté, Egalité, Souveraineté du peuple – sind scheinheiliger Schabernack. Der «Volksfreund» gibt sich als Apostel aus («Le bon Apôtre»), dabei ist er ein politischer Scharlatan.

«Der helvetische Volksfreund», Zeitung von Anhängern der Helvetik, erschienen 1799–1801 in Bischofszell TG.
ZHB Luzern

«Der Volksfreund – Der gute Apostel», Karikatur aus dem konservativen Lager, vermutlich 1831.
ZHB Luzern

Eine erste Spur des Wolfs im Schafspelz führt in die Ostschweiz, nach Bischofszell TG. Hier erschien in der Franzosenzeit «Der helvetische Volksfreund», der auf dem Titelblatt einen kühnen Bogen von 1798 zu den drei mythischen Gründervätern der Eidgenossenschaft schlug. Als die Brüder Schnell, führende Berner Liberale, 30 Jahre später eine liberale Wochenzeitung herausgaben, griffen sie auf den Namen der Ostschweizer Zeitung aus der Helvetik zurück. Unmittelbar nach dem liberalen Volkstag am 10. Januar 1831 in Münsingen BE gründeten sie den «Berner Volksfreund». Auch die Doppelsprachigkeit der Karikatur «Der Volksfreund» / «Le bon Apôtre» weist nach Bern. Bleibt die Frage nach den Schneiderutensilien des Wolfs, Elle, Schere, Bügeleisen. Nomen est omen. Johann Rudolf Schneider, ein radikaler Liberaler, nach 1830 bald Grossrat und führender Berner Regierungsrat, war Inhaber einer Druckerei in Biel, mit der er die Publikation radikaler Schriften förderte. Passt perfekt.

«Geist unserer Zeit» – Entscheidend ist das Kleingedruckte

Aus plus mach minus! Zu allen Zeiten ein probates Mittel der politischen Hetze. Auch David Hess (1770–1843) verstand sich darauf, wie seine Karikatur «Geist unserer Zeit» von 1831 besonders eindrücklich zeigt. Ein gehörntes, geflügeltes Ungeheuer, der Teufel, klebt politische Botschaften an die Wand, so die Forderung nach einem «Verfassungs-Rath» und einen «Aufruf zur Freyheit». Wer wollte sich gegen einen solchen Appell wenden?! Liest man aber die hinzugefügte Erklärung, ist dieser Freiheitsruf buchstäblich des Teufels. Er wird gleichgesetzt mit «Rebellion, Anarchie, Zügellosigkeit, Diebstahl, Unordnung, Sittenlosigkeit, Schlechtigkeit, Meüterey». Die Liste liesse sich mühelos verlängern, «usw.». Toleranz ist keine Tugend, sondern bedeutet bloss «Gleichgültigkeit, Unglaube und Schwachheit». Die «Souwerenität des Volkes» wird gleichgesetzt mit «Tyrannie einiger weniger Demagogen». Die Menschenliebe, Philanthropie, verkommt zur «Kunst für sich selbst zu sorgen und zwar auf Kosten seines Nächsten». Schliesslich verbergen sich hinter dem sogenannten «Glük des Volk's» bloss «Kummer und Sorgen für jeden insbesondere und Kummer und Elend für alle».

«Geist unserer Zeit», David Hess, 1831.
Zentralbibliothek Zürich, e-rara

Wiedersehen mit dem «Volksfreund»! Was er in den Nachttopf absondert, wird zum Kleister. Die Konservativen fürchteten die Presse wie der Teufel das Weihwasser, setzten die «Press Freyheit» gleich mit der «Publikation allen Unraths durch den Druck». Als ob es durch Wiederholung glaubwürdiger sei, unterstellte David Hess der liberalen «Appenzellerzeitung» dasselbe nochmals und konkretisierte seine Botschaft mit einem Schwein.

Der konservative Frontalangriff auf die Appenzellerzeitung wird im schweizerischen Kontext erklärbar. Das 1828 in Trogen AR gegründete Oppositionsblatt strebte eine demokratische Erneuerung an und bekämpfte die Zensur. In den 1830er-Jahren wurde die Appenzellerzeitung zum landesweiten Forum der Liberalen. Ihre besten Köpfe benutzten dieses Sprachrohr, so der Luzerner Ignaz Paul Vital Troxler (1780–1866), der Thurgauer Thomas Bornhauser (1799–1856) und der St. Galler Gallus Jakob Baumgartner (1797–1869), ganz im Sinne des führenden Luzerner Liberalen Kasimir Pfyffer (1794–1875): «Öffentlichkeit ist die Seele eines Freistaats».

David Hess mochte seinen Namen nicht unter seinen «Zeitgeist» setzen und unterschrieb mit «Von einem Quidam [Irgendwem]». Ihm war klar, wie sehr er die Dinge auf die Spitze trieb: Die Liberalen standen mit Bocksfüssen auf Urkunden, apostolischen Schriften, Rosenkranz und Urbarien (Besitzverzeichnissen); die Evangelien waren durchbohrt von der Sichel des Schnitters Tod, Weihwassergefäss mitsamt Wedel und Stundenglas umgekippt, kurz: Die Liberalen hatten die Welt aus den christlichen Angeln gehoben.

Aus Siegessäule mach Schandpfahl

Genug ist nicht genug. Auch ein unbekannter «Parteikollege» von David Hess geisselte die Liberalen, typisch für jene Zeit, mit Details ad libitum. Auf der «Ehrensäule» steht Johann Schnell, I.S., ein liberaler Arzt aus Burgdorf, der am Volkstag in Münsingen 1831 als begeisternder Redner auftrat, hier aber als «listigster Heuchler des leichtgläubigen Volkes» angeprangert und zum Werkzeug eines geflügelten und gehörnten Teufels gemacht wird. Mit seinem Schwanz hält ihn Mephisto am Bein fest, in der Hand den «Volksfreund Burgdorf», das kurz nach dem Volkstag gegründete liberale Blatt. Gemeint ist damit zwar der «Berner Volksfreund», aber «Burgdorf» soll auf die Brüder Schnell hinweisen. Das Untier verkündet zudem die Johann Schnell in den Mund gelegte Absicht, die Welt wolle betrogen sein und werde daher auch betrogen. Der Teufel zeigt gleich, wie’s gemacht wird und spiegelt dem dummen Volk etwas vor. Der liberale Volksredner hat rasch begriffen, tritt Verfassung und Pressefreiheit, die er propagiert, in Tat und Wahrheit mit Füssen. So jedenfalls sieht es der konservative Zeichner. Die «Reactions Proceduren» weisen auf einen umstrittenen Hochverratsprozess hin, der Johann Schnell mitangelastet wird. So sind eben die Liberalen! Das Geld daneben spielt wohl auf den Vorwurf der Liberalen an, die Patrizier hätten 1798 Gelder unterschlagen, als der Berner Staatsschatz geraubt, ein Teil davon aber in Sicherheit gebracht wurde. Auch auf die umstrittene Vermögensteilung zwischen dem alten Staat Bern und der Stadt wird damit hingewiesen, auf die sogenannte Dotation. Unglaublich, was wiederum in diese eine Zeichnung gepresst wird. Johann Schnell hält seine Rechte auf dem Kopf der Justitia und zeigt damit seine Macht über sie an. Mit verbundenen Augen möchte diese zwar gerecht urteilen, aber weil Waagschale und Richtschwert mit einem Faden verbunden sind, bleiben ihr nur die Tränen. Der Zeichner macht aus seinem Herzen keine Mördergrube: Es steht schlecht um Bern, wenn die Liberalen das Sagen haben.

Die hohe Säule, die den Redner ironisch vom Volk enthebt, bietet Gelegenheit für ein sechsteiliges Pamphlet in Comic-Form, zu lesen von unten nach oben. Der Fabeldichter Jean de La Fontaine (1621–1695) lässt grüssen.

«Mundus vult decipi, decipiatur ergo – Die Welt will betrogen sein, also werde sie betrogen». Karikatur aus dem konservativen Lager, vermutlich nach dem Volkstag in Münsingen BE 1831.
Schweizerisches Nationalmuseum

«Aus einem gewaltigen Thier wird ein Spazlein»

Der Fuchs verführt mit seiner Rede das Hühnervolk und den Raben (1). Was Schmeicheln bewirken kann, lehrt La Fontaines Fabel «Der Rabe und der Fuchs» (2). Also ködert der Fuchs die gefiederten Freunde mit Futter, mit Versprechen aller Art (3). Kaum ist das gutgläubige Hühnervolk zutraulich geworden, schnappt der Fuchs zu (4). Das lässt sich das Volk aber nicht bieten. Mit vereinten Kräften wird der Fuchs besiegt (5) und danach ausgeweidet (6). Triumphierend steht der Rabe auf seiner Trophäe. – Der Zeichner kommentiert: «Wenn schon dieser Fuchs ein jezt [1831] noch sehr gewaltiges Thier ist, so wird doch aus demselben bald wieder ein Spazlein werden.»

Das sollte sich als eitle Hoffnung erweisen. Die Zeit arbeitete für die Freiheitsrechte, für eine Bundesverfassung, für einen gemeinsamen Staat. In diesem Staat dominierten die Liberalen. Von 1848 bis 1891, mehr als vier Jahrzehnte, besetzten Liberale und Radikale sämtliche sieben Sitze des Bundesrates. Die Weissagung des Karikaturisten von 1831 hatte sich ins Gegenteil verkehrt. Aus einem «Spazlein» war ein «gewaltiges Thier» geworden.

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1830 – Der zweite Anlauf

In mehreren Wochenserien präsentiert der Historiker Kurt Messmer den Weg der Schweiz vom Feudalismus in die Demokratie.

Das historische Thema dieser Woche: Der liberale Umschwung zwischen Wienerkongress und Bundesstaat, die Zeit der Regeneration um 1830.

Montag:
1819 Maulkörbe, doch «die Gedanken sind frei!»
Nach der Franzosenzeit gewannen ab 1813 wieder reaktionäre Kräfte die Oberhand in Europa und der Schweiz, doch die Liberalen hielten dagegen. In der Biedermeierzeit gab es neben Wohlstand bittere Armut, dazu eine drakonische Justiz.

Dienstag:
«Aufruf zur Freyheit ist Rebellion und Meüterey»
Wie viel Sprengkraft die liberalen Freiheitsrechte hatten, zeigt die Schärfe, mit der sie von den Konservativen bekämpft wurden. Karikaturen jener Zeit berichten von listigen Volksverführern und schauerlichen Ungeheuern.

Mittwoch:
Studenten, Sänger, Schützen, Turner
Nach 1815 waren die Kantone wieder unabhängige Staaten. Als einigende Kraft über die Grenzen hinweg erwiesen sich die Vereine. Die Festhütten von Studenten, Sängern, Schützen und Turnern wurden zu Kathedralen der Idee Schweiz.

Donnerstag:
«Die alte Herre müesse wäg! Mi nimmt se bi de Chräge.»
Die liberale Erneuerung der Schweiz nahm im Sommer 1830 Fahrt auf. Tausende strömten zu Volkstagen, die sich wie ein Lauffeuer entzündeten: von Weinfelden nach Wohlenschwil, Sursee und Uster, von Wattwil und Altstätten SG nach Balsthal und Münsingen.

Freitag:
«Stehet auf, Eidgenossen, rettet das Vaterland!»
Die Volkstage von 1830/31 brachten liberale Kantonsverfassungen hervor, aber noch keinen starken Bund. Das verlangte eine Volksversammlung 1836 in Flawil. – Das letzte Wort hat eine Frau, Katharina Morel, und wie!

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