Warhol, Tinguely, Polke und die Flucht ins Fluchen
Welchen Teufel hat Sigmar Polke geritten, als er 1968 sein Schimpftuch kreierte? Und welchen Aussage macht Tinguelys Bierflaschen-Zertrümmerungsmaschine? Wir wissen es nicht. Dass die Kunstwerke jedoch stilprägend waren, steht ausser Frage.
«Scheisskerl», «Eumel», «Hurenbock» – selten wird man mit solchen Worten von einer Ausstellung begrüsst. Aktuell lässt das Landesmuseum zu Beginn von «Imagine 68» eine richtige Schimpftirade auf seine Besucherinnen und Besucher los. Wer die monumentale Treppe bestiegen, die kriegerischen Bloodhount-Raketen passiert und sich von John Lennon auf Grossleinwand hat angrinsen lassen, wird von Sigmar Polkes «Grossem Schimpftuch» zusammengestaucht: «Esel, Idiot, Speichellecker». Autorität wird in diesem Ausstellungsauftakt dicht an dicht behauptet, ironisiert und angegriffen.
Polke hat das viereinhalb Meter grosse Stoffquadrat im Jahr der Revolte 1968 mit schnellen Gesten vollgeschrieben. Danach habe er es sich in einer Mischung aus Joseph Beuys und Rumpelstilzchen wie ein Cape um die Schultern geworfen. In New York, wo das grosse Schimpftuch 2014 im MoMa als ein zentrales Werk des Künstlers gefeiert wurde, beschwor ein US-Kritiker die Nähe von Polkes tropfenden Buchstaben zu Jackson Pollocks abstraktem Dripping. Man darf annehmen, dass der Autor kein Deutsch verstand.
Auch für uns in Zürich sind die Schimpfworte nicht immer leicht zu entziffern. Aber sie lassen keinen Zweifel am Unmut des Künstlers offen. Besonders wenn man Polkes Liste in einer Gruppe laut liest, so wie es Professor Philip Ursprung den Ausstellungsbesuchern empfiehlt. Wir haben es vor kurzem mit Dieter Meier, der in «Imagine 68» mit frühen Filmen und Performances vertreten ist, praktiziert. Die unverkennbare Yello-Stimme wurde dabei zum Treiber eines befreienden Fluchens im Museum.
Flaschen zertrümmern und in Silberwolken schweben
Nur welchen Teufel wollte Polke mit seinem Schimpftuch eigentlich austreiben? Und welche Teufel scheinen ihn dabei geritten zu haben? Darauf gibt es keine klare Antwort. Die Frage nach der «Message» stellt sich in der Ausstellung «Imagine 68» nicht nur bei Polke, sondern auch bei den vielen anderen Künstlerinnen und Künstlern, die in der Ausstellung vertreten sind, etwa bei Jean Tinguelys «Rotozaza»-Maschine, die knallend Bierflaschen zertrümmert, bei Claes Oldenburgs Lippenstiftpanzer, bei Martha Roslers Fotocollagen, die den Vietnamkrieg in die gute amerikanische Stube holen, bei Valie Exports «Genitalpanik» mit der im Schritt ausgeschnittenen Bluejeans und sogar beim Altmeister der Affirmation Andy Warhol und seinen Silberwolken. Sie schweben wie dumme Schäfchen durch einen grossen Kino- und Rauschraum, kleben in Gruppen an der Decke oder sinken träge zu Boden.
Alle diese Kunstwerke haben etwas gemeinsam. Sie wirken nach 50 Jahren so frisch wie aus Zeitkapseln herausgelöst. Sie folgen keinem politischen Parteiprogramm und machen keine Propaganda. Sie sind Zeugnisse subjektiver Kreativität von jungen Künstlerinnen und Künstlern, die auf das Zeitgeschehen um sie herum reagieren, manchmal naiv, unausgegoren oder unwissend stilbildend wie bei den Paten des Pop. Für sie alle scheint der Satz zu gelten, den der Regisseur Fredi Murer en passant platziert hat, als er durch «Imagine 68» spazierte: «Wir hatten damals absolut keine Ahnung, was wir da machten, aber wir fanden es total spannend.»
Imagine 68. Das Spektakel der Revolution
Landesmuseum Zürich
14.09.18 - 20.01.19
Nach den erfolgreichen Ausstellungen «1900–1914. Expedition ins Glück» (2014) und «Dada Universal» (2016) zeigen Stefan Zweifel und Juri Steiner 2018 ihre Perspektive auf die 68er-Generation. Die Collage der beiden Gastkuratoren aus Objekten, Filmen, Fotos, Musik und Kunstwerken macht die Atmosphäre von 1968 sinnlich erlebbar. Die Ausstellung wirft einen umfassenden Blick auf die Kultur dieser Zeit und lässt die Besucherinnen und Besucher durch Warhols Silver Clouds ins Reich der damaligen Fantasien schweben.