Im Olympiafinal von 1924 spielte die Schweiz gegen das übermächtige Uruguay. José Andrade (am Ball) war der Star des Turniers.
Im Olympiafinal von 1924 spielte die Schweiz gegen das übermächtige Uruguay. José Andrade (am Ball) war der Star des Turniers. Pozzo Archive / FIFA Museum

Die Schweiz ist Europameister!

Vor 100 Jahren feierte die Nati in Paris den grössten Triumph ihrer Geschichte. Fast wäre er verhindert worden – wegen mangelndem Glauben und grosser Knausrigkeit.

Mämä Sykora

Mämä Sykora

Mämä Sykora ist Chefredaktor des Fussballmagazins «Zwölf».

Die fehlende Zuversicht im Vorfeld wird nun zu einem echten Problem. Angesichts der starken Konkurrenz und der Tatsache, dass das Olympische Fussballturnier 1924 in Paris im K.-o.-System gespielt wird, hatten sich die Schweizer für die günstige Reisevariante entschieden und ein nur zehn Tage gültiges Kollektivbillett gekauft. Doch nun erlebte die Nati eine Siegesserie. Das Ticket verfällt und den Schweizern geht das Geld aus. Die Zeitung Sport bittet die Leserschaft um Unterstützung, und die ist überwältigend: Fans strömen in die Redaktion in Zürich und deponieren Fünffränkler und Zehnernoten, Firmen sammeln unter Mitarbeitern oder spenden selbst grosszügig. Innerhalb eines Tages kommen 6000 Franken – heute wären das rund 40'000 – zusammen. Zudem treffen aus der Heimat mit Extrazügen Tausende von Schlachtenbummlern ein, um beim Spiel dabei zu sein, in dem die beste Mannschaft des Planeten gekürt wird: Schweiz gegen Uruguay.
1924 gibt es im Fussball keine Welt- und auch keine Europameisterschaft. Olympia ist das Grösste für die noch relativ junge Sportart. Profis – mancherorts gibt es sie schon – sind zwar nicht zugelassen, wie sich dieser Status definiert, darüber streiten sich die FIFA und das Olympische Komitee. Grossbritannien und Dänemark sagen deshalb für Paris ab, dennoch wird das Turnier mit 22 Nationen aus vier Kontinenten zum ersten internationalen Turnier überhaupt. Paris hat sich für den grossen Anlass herausgeputzt. Die Autos zirkulieren flüssig, die Bars und Cafés sind voll, und aus den Dancings locken die Klänge von Jazzbands. Allerorts erhofft man sich gute Geschäfte mit den Olympia-Touristen. Studenten werden kurzerhand aus ihren Hotels geschmissen und die Preise erhöht; das Bahnticket zum Stade de Colombes, dem Hauptspielort des Fussballturniers, kostet drei Mal so viel wie üblich – mit dem Effekt, dass die Leute lieber den Bus nehmen und nach der Fahrt auf den staubigen Strassen in ihren Sonntagsanzügen aussehen wie im Mehl gewendet.
Die Eröffnungszeremonie der olympischen Spiele von 1924 im Stade de Colombes.
Die Eröffnungszeremonie der olympischen Spiele von 1924 im Stade de Colombes. gallica / Bibliothèque nationale de France
17 Spieler werden für die Nati selektiert. Darunter auch einer der wenigen Fussball-Söldner am Turnier: der Genfer Adolphe Mengotti, Sohn eines Diplomaten, der für Real Madrid spielt. Gleich sieben Servettiens sind dabei, etwa Charles Bouvier, der zwölf Jahre später Olympiagold im Viererbob holen sollte. Polysportiv ist auch FCZ-Stürmer Paul Sturzenegger, einstiger Schweizer Meister im Weitsprung. Der Auftakt gelingt der Nati nach Mass: Die inferioren Litauer fegt sie mit 9:0 weg, bis heute der höchste Sieg ihrer Geschichte. Für Aufsehen sorgen aber mehr die Uruguayer, die erstmals ausserhalb Südamerika antreten. Ihnen eilt der Ruf eines «achten Weltwunders» voraus. Spielen sehen hat sie kaum jemand. Angeblich sollen deshalb die Jugoslawen, ihr erster Turniergegner, Spione ins Training geschickt haben, was die Uruguayer bemerken und deshalb absichtlich jeden Ball verstolpern. Die Partie gewinnt der Südamerikameister dann gleich mit 7:0.
Die Schweizer Fussballnationalmannschaft von 1924. 
Die Schweizer Fussballnationalmannschaft von 1924. Sport Archive / FIFA Museum
Im Achtelfinal treffen die Schweizer auf die haushoch favorisierten Tschechoslowaken. Das beachtliche 1:1 macht ein Wiederholungsspiel fällig, dort erzielt Robert Pache kurz vor Schluss das einzige Tor. In der Heimat nimmt die Euphorie Fahrt auf: Tausende rufen auf der Redaktion des «Sport» an, um das Resultat zu erfahren. «Telefon-Ordonnanzen sinken bewusstlos vom Stuhl», schreibt das Blatt. Noch heftiger wird es, als die Nati drei Tage später auch Italien besiegt. In Bern versammelt sich eine riesige Menge vor der Redaktion der Zeitung «Der Bund» in Erwartung des Resultats. Als das Telegramm endlich eintrifft, bricht Jubel aus, der bis Mitternacht anhält. Vor dem Halbfinal gegen Schweden ist sich der «Sport» sicher: «Noch nie war sportlich irgendetwas so aktuell wie dieses Spiel!» Dort ist die Nati in der zweiten Halbzeit überlegen. Fässler trifft den Pfosten, Dietrich vergibt allein vor dem Tor, und schliesslich verwertet Abegglen ein Zuspiel Schmiedlins mit einem wuchtigen Schuss. 2:1, die Schweiz steht im Final der «Weltmeisterschaft», wie das Turnier genannt wird!
Schweiz gegen Italien an der Olympiade von 1924 in Paris.
Schweiz gegen Italien. Paul Sturzenegger (rechts) trifft auch in diesem Spiel. Am Ende gewinnt die Schweiz mit 2:1. Pozzo Archive / FIFA Museum
Und die Spieler geniessen ihren Triumph. Bei einem Empfang im Restaurant des Eiffelturms stehen auf dem Menüplan unter anderem Escalope de Veau lithuanienne, Contrefilet Tchèco-Slovaquie, Salade italienne und Bombe Schmiedlin. Und der Sport schwärmt: «Der Name unseres Landes geht durch aller Mund. Von Fernost bis zu den Kordilleren, von den australischen Steppen bis hinauf in den hohen Norden.» Tatsächlich aber redet selbst in Paris alles nur von Finalgegner Uruguay. Beim 5:1 über Gastgeber Frankreich umdribbelte José Leandro Andrade die gesamte Abwehr und legte dann quer auf seinen Teamkollegen, der nur noch einzuschieben brauchte. So was ward in Europa noch nie gesehen!
Das Team von Uruguay begrüsst die Finalzuschauer, 1924.
An Uruguay führte in Paris kein Weg vorbei. Die Südamerikaner spielten Fussball in einer anderen Dimension! Pozzo Archive / FIFA Museum
Am Finaltag sind schon zur Mittagszeit die Strassen zum Stade de Colombes verstopft, vor den Eingängen stehen die Leute Schlange. 10’000 Wartende müssen abgewiesen werden. Enttäuschung empfinden auch jene Fussballbegeisterten, die sich in der Zürcher Tonhalle eingefunden haben: Zum ersten Mal sollte ein Nati-Spiel live im Rundfunk zu hören sein. Doch der Wind treibt den über dem Pariser Spielfeld schwebenden Ballon mit radiotelefonischen Apparaten ab; die Übertragung fällt ins Wasser. Auch die Hoffnungen der Schweizer Fussballer halten nicht lange. Sie sehen kaum einen Ball, Torhüter Pulver wird regelrecht bombardiert. Schon nach acht Minuten führt Uruguay mit 1:0. Beim Schuss von Pedro Petrone, genannt «Artillero», kriegt Pulver nicht einmal die Hände hoch. Irgendwie retten sich die Eidgenossen in die Pause, doch danach geht es im gleichen Stil weiter. Petrone zieht aus allen Lagen ab, Andrade spielt am Flügel seine Gegner schwindlig, die «Urus» treten Eckbälle am Laufmeter, fast ununterbrochen sind sie in Ballbesitz. Nach einer Stunde erhöht Cea, und Romano besorgt später das Schlussresultat von 3:0 – mit dem die Schweizer noch gut bedient sind.
Der WM-Final Uruguay-Schweiz von 1924. YouTube
José Leandro Andrade, der dunkelhäutige Star des Turniers, bleibt gleich in Paris und tingelt als Tänzer und Sänger durch die Variétés. Auch im Nachtleben erlangt er Berühmtheit, ehe ihm Josephine Baker den Rang abläuft. 1928 holt Uruguay mit Andrade in Amsterdam den nächsten Olympiatitel, 1930 in der Heimat den ersten WM-Titel. Die Schweizer werden bei der Heimkehr gefeiert. In Basel erhalten sie Blumen, Uhren und Wein. Der Umzug ins Rathaus bringt den Tramverkehr zum Erliegen. Der Zürcher Hauptbahnhof ist gar «schwarz vor Menschen», wie der Sport schreibt. Die Menge reisst sich um den FCZ-Spieler Paul Sturzenegger und trägt ihn auf den Schultern aus der Halle. Denn immerhin sind sie als beste Mannschaft des Kontinents nun – zumindest inoffiziell – Europameister.
Die Schweizer Fussballnationalmannschaft vor dem ersten Spiel gegen Litauen, 1924.
Die Schweizer Nati wurde 1924 Fussball-Europameister. Zumindest inoffiziell. Zweiter von links ist Paul Sturzenegger, mit fünf Toren viertbester Torschütze des Turniers. Pozzo Archive / FIFA Museum

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