Im Weissen Buch von Sarnen kommt Tell zur Welt. 1470 vom Obwaldner Landschreiber Hans Schriber angelegt, wird das Kanzleibuch im 17. Jahrhundert in weisses Leder gebunden − daher «Weisses Buch».
Schweizerisches Nationalmuseum / Tom Bisig

Das Weisse Buch von Sarnen

Es war einmal ein Held namens Tell. Geboren wird er in einer Amtsstube in der Zentralschweiz. Tell ist ein Agent, immer unterwegs im Auftrag dessen, der seine Geschichte erzählt.

Michael Blatter

Michael Blatter

Michael Blatter ist Historiker und arbeitet als Stadtarchivar von Sursee.

«Nu was da ein redlicher man hiess der thäll». Mit diesen Worten kommt Tell 1470 auf die Welt, in einer Geschichte, die wir alle bereits kennen: Gessler, Gesslerhut, Apfelschuss, der Sprung auf die «Tellen platten», die hohle Gasse, Gesslers Tod, die Verschwörung auf dem Rütli, Burgenbruch und Vertreibung der Vögte. Kaum auf der Welt, hat Tell bereits einen Auftrag. Nicht in der hohlen Gasse sein tödliches Geschoss auf den bösen Tyrannen Gessler abfeuern – diese und all die anderen Heldentaten leistet er bereits in der Geschichte. Tell kommt im «Weissen Buch von Sarnen» zur Welt, in einem Kanzleibuch, im Büro. Und wie alles, was in einem Büro hergestellt, entschieden, aktenkundig wird, entsteht auch das Weisse Buch von Sarnen nicht ohne Grund, Anlass oder Problem, das irgendwie gelöst werden muss. Unterwalden hat seit 1469 ein grosses Problem, und wie oft in der Bürokratie, ist es kompliziert.

Unterwalden ist, zusammen mit allen anderen Eidgenossen, geächtet. Kaiser Friedrich III. hat auf Veranlassung des Habsburgers Herzog Sigmund die Eidgenossen in Reichsacht geworfen. Habsburg will alle im Laufe der Jahre an die Eidgenossen verlorenen Rechte im Aargau, Thurgau und in der Innerschweiz zurück, mit Gewalt. Geächtete sind rechtlos. Jeder darf gegen sie Krieg führen. Eine Reichsacht ist aber immer auch eine Aufforderung an die Geächteten, den eigenen Rechtsstandpunkt darzulegen, mit Rechtsdokumenten zu untermauern. 1470 beginnt der Obwaldner Landschreiber mit dem treffenden Namen Hans Schriber, alle wichtigen Rechte in ein Buch abzuschreiben: Urkunden, Privilegien, Verträge, Gerichtsurteile, erschlossen über ein detailliertes Register, mit leeren Seiten für Nachträge. Doch die Zusammenstellung im Weissen Buch von Sarnen zeigt vor allem eines. Anders als Uri oder Schwyz hat Unterwalden kein altes Privileg für die Reichsunmittelbarkeit, sprich, dass Uri oder Schwyz niemand anderem Untertan seien als direkt dem römischen Kaiser, sondern nur jüngere kaiserliche Bestätigungen einer Reichsunmittelbarkeit, die Unterwalden so gar nie erhalten hat.

Die Geschichte von Wilhelm Tell inspiriert. So auch den italienischen Künstler Angelo Biasioli, der Anfang des 19. Jahrhunderts diese Druckgrafik erschafft.
Die Geschichte von Wilhelm Tell inspiriert. So auch den italienischen Künstler Angelo Biasioli, der Anfang des 19. Jahrhunderts diese Druckgrafik erschafft. Schweizerisches Nationalmuseum

Tells Geschichte beginnt in Rom

Tells Geschichte im Weissen Buch von Sarnen beginnt im antiken Rom, damit, wie die Länder Uri, Schwyz und Unterwalden alle drei bereits in der Antike reichsunmittelbar geworden sind. Später dann kommen die fremden Vögte, und diese wollen «die lender vom rich bringen», also dem Kaiser, dem Reich stehlen. Zudem regieren die Vögte tyrannisch, unmoralisch, stellen Frauen nach, stehlen, verlieren jegliche Legitimität. Gipfel der Willkür: ein Vater muss auf seinen Sohn zielen, ihm einen Apfel vom Kopf schiessen. Für getreue Untertanen des Kaisers ist es geradezu doppelt Pflicht, Widerstand zu leisten, die Vögte zu vertreiben, oder zu ermorden, um die Länder für das Reich zu retten. So gesehen kann die Reichsacht von 1469 eigentlich nur ein Missverständnis sein – das ist Tells Mission. Ob Tell damit Erfolg gehabt, kaiserliche Rechtspezialisten überzeugt, oder immerhin von fehlenden Reichsunmittelbarkeitsurkunden abgelenkt hätte. Wir wissen es nicht. 1474 ziehen Habsburg und die Eidgenossen in den Krieg, aber nicht gegeneinander, sondern miteinander, gegen einen gemeinsamen Feind, Karl den Kühnen von Burgund. Habsburg verzichtet endgültig auf die Rechtsansprüche in der Eidgenossenschaft. Die Reichsacht ist hinfällig. Tell hat ausgedient, noch ehe er zum Einsatz gekommen ist.

Doch damit ist die Geschichte noch nicht vorbei. Gute Geschichten sind fliegende Teppiche, die mühelos Zeiten und Distanzen überwinden können. Bereits grosse Teile von Tells Geschichte – der Held heisst zwar nicht Tell, sondern Toko, Palna-Toki oder Heming Aslakson, kommen von woanders, von skandinavischen Erzählungen, zum Beispiel der Geschichte der dänischen Könige, zwischen 1185 und 1200 von «Saxo Grammaticus» am Hof des Bischofs von Roskilde geschrieben. Der Apfelschuss ist noch älter, zu finden im Versepos «Mantiq at tair», verfasst vermutlich im Jahr 1177 vom persischen Sufi-Dichter Farid du-Din Attar.

Das älteste Bild von Wilhelm Tell, gedruckt und vervielfältigt 1507 in Petermann Etterlins Chronik.
Schweizerisches Nationalmuseum

Terrorist aus dem Mittelalter

Gute Geschichten fliegen nicht nur hervorragend und leicht wie fliegende Teppiche, sie verändern sich auch. 1507 erscheint Tell in Druck, in Petermann Etterlins «Kronica von der loblichen Eydtgnoschaft», illustriert mit dem Apfelschuss, dem ersten Bild des Tellen überhaupt. Bald werden aus dem einen drei Tellen, die drei schwörenden Gründer der Eidgenossenschaft, 1590 in Erz gegossen in der «Drei-Tellen-Glocke» der Tellskapelle. 1653 treten im Entlebuch die drei Tellen auf. Drei Anführer der aufständischen Untertanen schlüpfen in historische Kostüme, verkleiden sich als die drei Tellen, und schiessen scharf auf eine Delegation der Luzerner Obrigkeit. Es sind nicht die einzigen, die im Namen Tells scharf schiessen.

Zum Beispiel das französische Kriegsschiff «Guillaume Tell», 1796 vom Stapel gelassen, das für die Französische Revolution im Mittelmeer kämpft. Oder John Wilkes Booth, der Schauspieler, der am 15. April 1865 Abraham Lincoln, den amtierenden Präsidenten der Vereinigten Staaten von Nordamerika, im Theater ermordet und sich rechtfertigt, er habe getan, «what made Tell a Hero». Oder die Anarchistin Tatjana Leontjewa, die 1906 in einem Grand Hotel in Interlaken den gefürchteten russischen Innenminister erschiessen will. Getroffen hat sie allerdings einen unbeteiligten französischen Touristen. Vor Gericht beruft sie sich ebenso auf Tell wie später die Kämpfer der palästinensischen Befreiungsfront, die 1969 beim Flughafen Zürich eine israelische Passagiermaschine mit Maschinengewehren beschiessen.

Tell ist, neben vielem anderen, eben auch ein Terrorist aus dem Mittelalter. Erzählen klingt wie eine freundliche Tätigkeit. Aber Erzählen – und das macht die Geschichte vom Tell unübersehbar – schliesst die Lizenz zum Töten ein.

Jeder, der sich auf die Geschichte vom Tell beruft – von Sarnen bis Paris, von Weimar bis Washington, von Interlaken bis in den Nahen Osten – kann sich mit ihrer Hilfe in einen freien Bauern aus dem Mittelalter verwandeln. Und zwar in einen, der am Schluss gewinnen wird. Wer vorgibt, mit der Stimme des Mannes mit der Armbrust zu sprechen, verwandelt sich damit in das unschuldige Opfer von Unterdrückung. Und gleichzeitig in den tapferen Rächer, der den Abzug drücken darf. Kein Wunder, dass diese mittelalterliche Erfindung zum Exportschlager geworden ist.

Wo wird Tell als Nächstes zur Armbrust greifen? «Pity a country that needs heroes», so – in Anlehnung an Bertold Brechts berühmtes Diktum «Unglücklich das Land, das Helden nötig hat» – ein aktueller Kommentar aus Mitteleuropa, wo derzeit intensiv über Helden diskutiert wird. In der Ukraine werden Denkmäler und Strassennamen, die an Stalin oder Lenin erinnern, entfernt. Aber soll man, und womit soll man sie ersetzen? Wer weiss, ob nicht gerade jetzt in Syrien unter Assad, in Ägypten unter Sisi oder in Russland unter Putin Tells Geschichte einmal mehr neu geschrieben wird?

Das französische Schiff «Guillaume Tell» wird 1800 vor Malta von britischen Schiffen erobert und sogleich als «HMS Malta»in die britische Flotte aufgenommen.
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Geschich­te Schweiz

Die Dauerausstellung zur Schweizer Geschichte beschreibt auf 1000 m2 das Werden der Schweiz über einen Zeitraum von 550 Jahren. Der Gang durch die Jahrhunderte beginnt am Ende des Mittelalters und endet mit den Herausforderungen für die demokratischen Institutionen der Gegenwart. Die Ausstellung inszeniert den Weg vom Staatenbund zum Bundesstaat als ein Ringen um Zugehörigkeiten. Zudem sprengt sie eine zeitliche Grenze, die für historische Museen oft ein Tabu ist. Sie wagt den Blick auf die Geschichte der Gegenwart.

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