Die Schweiz von oben
Eduard Spelterini war Abenteurer, Ballonfahrer und Fotokünstler. Er zeigte vielen zum ersten Mal, wie die Schweiz von oben aussieht.
Fuhr Eduard Spelterini mit seinem Ballon in den Himmel auf, war das ein Fest für die Massen, ein Abenteuer für die Passagiere und ein Ereignis für die Wissenschaft. Kapellen spielten auf, Essensbuden boten Imbisse feil und Tausende zahlten anständigen Eintritt. Sie alle wollten miterleben, wie der Kapitän mit seinem so gigantischen wie flüchtigen Gefährt die Schwerkraft überlistete und in die Lüfte entschwand. Um 1900 war Spelterini ein Star. Er machte den Traum vom Fliegen wahr.
Der berühmte Kapitän war dabei eher aus Bierschaum denn aus Sternendunst geboren: Unter dem bürgerlichen Namen Eduard Schweizer hatte er am 2. Juni 1852 als Sprössling einer Toggenburger Wirtefamilie das Licht der Welt erblickt. Gesicherte Informationen zu seiner Kindheit und Jugend fehlen weitgehend. Sicher ist dagegen, dass er als knapp 20-Jähriger den Reizen der Schwerelosigkeit erlag und nach Paris ging. In der Hauptstadt der Ballonfahrt legte er 1877 sein Diplom als Luftschiffer ab.
Das Geschäft mit der Ballonfahrt
Fortan stellte er sich unter dem schillernden Namen Spelterini vor und begann, zahlenden Passagieren die Welt von oben vorzuführen. 1887 liess er seinen ersten eigenen Ballon nähen, die Urania: aus gelber Seide, mit einem Fassungsvermögen von 1500 Kubikmeter Wasserstoff. Damit stieg er in Paris und Moskau, London und Kairo, St. Gallen und Genf auf. Zu seinen Kunden gehörten mutige Mitglieder der sogenannten besseren Gesellschaft, neugierige Militärs und unerschrockene Wissenschaftler. Es soll vorgekommen sein, dass Spelterini beim Aufstieg auf den Korbrand kletterte und eine Arie schmetterte. Wenn er dann, gerade zur rechten Zeit, den Champagner und die kalten Koteletts aus dem Picknickkorb zog, mussten sich auch die ängstlichsten Passagiere wie im siebten Himmel gefühlt haben.
Doch jeder Aufstieg bedeutete auch eine Trennung. Wenige Auserlesene stiegen in die höchsten Höhen. Die grosse Masse wurde auf dem Boden zurückgelassen. Ihr blieben die Wunder der Vogelperspektive verwehrt. Vielleicht lag es an diesem bedauernswerten Umstand? Jedenfalls entdeckte Spelterini nach 1890 einen neuen Markt: Er begann, aus der Luft zu fotografieren. Für seine Aufnahmen beugte er sich mit einer schweren und klobigen Kamera in grosser Höhe und bei tiefen Temperaturen über den Korbrand. Die Luftfotografie war ein so kompliziertes wie gefährliches Geschäft. Trotzdem gelangen Spelterini atemberaubende Aufnahmen. Auf zahlreichen Vorträgen führte er diese vor – und zeigte einem breiten Publikum zum ersten Mal die Welt von oben.
Begleitet von zwei Wissenschaftlern und einem Assistenten stieg Spelterini am 3. Oktober 1898 in Sitten auf. Via Les Diablerets und Yverdon trieb der Wind den Ballon bis ins französische Rivières-les-Fossés. Damit hatte Spelterini als erster Mensch ein Hochgebirge überflogen. Neun weitere Alpenüberquerungen folgten. Mit dem Anbruch des 20. Jahrhunderts stand Spelterini auf dem Höhepunkt seines Ruhms.
Umso tiefer war der Fall: 1914 brach das internationale Geschäft zusammen. Die Grenzen gingen zu. Die zahlende Kundschaft verschwand in den Schützengräben und Gräberfeldern des Ersten Weltkriegs. Für die Luftschiffer verkündete das Geheul am europäischen Himmel zusätzliches Unheil. Die neuen Flugzeuge waren präzise navigierbar. Sie liessen sich auch gegen den Wind steuern. Damit konnten die Ballonfahrer nicht mithalten. Auf einmal gehörten sie zum alten Eisen. Das Geld und die Herzen des Publikums flogen jetzt den jungen Flugzeugpiloten in ihren Lederjacken zu. Nach dem Krieg stieg Spelterini zwar noch einige Male auf. 1922 liess er sich für eine Saison als Attraktion im Kopenhagener Freizeitpark Tivoli herzeigen. Aber der unaufhaltsame Aufstieg der motorisierten Luftfahrt war unbestreitbar. Für die Ballonfahrer war die Show vorbei.
1923 zog Spelterini auf einen kleinen Hof in die oberösterreichischen Provinz. Hier lebte er mit seinen Nächsten vom Eierverkauf. Von der Öffentlichkeit weitgehend vergessen starb der Kapitän am 16. Juni 1931. Seine Bilder sind geblieben. Heute nutzen wir täglich Satellitenbilder zur Navigation und jeder und jedem gelingen mit Drohnen spektakuläre Luftaufnahmen. Trotzdem bezaubern Spelterinis Fotografien nach wie vor. Vielleicht weil sie zwei widerstrebende Sehnsüchte befriedigen: jene nach der Ruhe der Ballonfahrt und jene nach dem Geist des Abenteuers.
Von oben – Spelterinis Ballon und die Drohne
Schweizerische Nationalbibliothek
bis 28. Juni 2019
In der Ausstellung «Von oben – Spelterinis Ballon und die Drohne» erzählt die Nationalbibliothek in Bern eine kleine Geschichte der Luftaufnahme in der Schweiz. Von Eduard Spelterinis Ballon führt sie über Brieftauben, Flugzeuge und Satelliten bis zur Drohne. Der Blick von oben schafft Wissen über Landschaften, Technologien und Verborgenes. Mit einer Ballonfahrt in Virtual Reality und dem Fotografieren per Dohne lädt die Ausstellung dazu ein, die Perspektive zu wechseln und die Aktualität von Luftaufnahmen zu erkunden.