Bregenz wäre vor 100 Jahren fast mal eine Kantonshauptstadt geworden.
Schweizerisches Nationalmuseum

Der Kanton Übrig

Im Mai 1919 stimmte die Bevölkerung Vorarlbergs über einen Beitritt zur Eidgenossenschaft ab. Das Ja fiel mit über 80 Prozent wuchtig aus. Trotzdem kam es nicht zum Zusammenschluss. Eine Rückblende.

Andrej Abplanalp

Andrej Abplanalp

Historiker und Kommunikations-Chef des Schweizerischen Nationalmuseums.

Vor 100 Jahren, am 11. Mai 1919, wäre die Schweiz beinahe um 2600 Quadratkilometer gewachsen. Die Vorarlberger stimmten über die Aufnahme von Verhandlungen mit der Schweiz für einen Beitritt ab. Resultat: Über 80 Prozent wollten sich der Eidgenossenschaft anschliessen. Doch die Siegermächte des Ersten Weltkriegs hatten andere Pläne. Im Vertrag von Saint-Germain wurde die Auflösung des Königreichs Österreich-Ungarn geregelt. Eine Integration Vorarlbergs in die Eidgenossenschaft war nicht vorgesehen und sorgte bei den Verhandlungsparteien für rote Köpfe. Italien beispielsweise wollte, sollten sich im Osten der Schweiz die Grenze verändern, das Tessin als Kompensation. Der Wunsch der Grenzregion wurde nicht berücksichtigt und das Gebiet gehörte fortan zu Österreich, das als eigener, demokratischer Staat aus den Verhandlungen hervorging.

Ennet dem Rhein waren die Reaktionen auf die Abstimmung ebenfalls zurückhaltend. Zwar gab es durchaus Befürworter, etwa Bundesrat Felix Calonder, der sich für eine aktive und ambitionierte Schweizer Aussenpolitik stark machte. Oder der St. Galler Kantonsrat Ulrich Vetsch. Er war Mitbegründer des Aktionskomitees Pro Vorarlberg und von einer Integration der Grenzregion überzeugt. Dies vor allem aus verkehrstechnischen Gründen, denn er träumte von einer Ostschweiz als wichtiger Transitraum. Calonder und Vetsch stiessen jedoch auf erbitterten Widerstand. Nicht nur innerhalb des Bundesrats, wo insbesondere Edmund Schulthess vehement gegen die Aufnahme plädierte. Auch den Romands gefiel der Gedanke nicht, ein weiteres deutschsprachiges Gebiet zu integrieren. Opposition regte sich ausserdem in protestantischen Regionen, die um das fragile Gleichgewicht zwischen den Konfessionen in der Schweiz fürchteten.

Plakat Pro Vorarlberg des Schweizer Malers Jules Courvoisier.
Wikimedia

Alt Bundesrat Felix Calonder bei einer Rede. Das Bild stammt aus dem Jahr 1934.
Schweizerisches Nationalmuseum

Zusammenschluss mit Bayern?

Obwohl vier Fünftel der Vorarlberger Schweizer werden wollten, gab es auch im «Kanton Übrig», wie die Region von deutschfreundlichen Kreisen spöttisch benannt wurde, einige Skeptiker. Die Bedenken kamen vor allem aus der Wirtschaft. Viele Vorarlberger Unternehmer orientierten sich Richtung Deutschland, weil sie sich dort unter anderem einen grossen Absatzmarkt für ihre Produkte erhofften. Es gab sogar Pläne für einen Zusammenschluss mit Baden, Bayern und Württemberg zu einem neuen Bundesland Schwaben. Auch die deutschfreundliche Landesregierung von Vorarlberg wollte grundsätzlich nicht in die Schweiz integriert werden. Nach dem klaren Abstimmungsresultat war sie jedoch gezwungen, Verhandlungen mit dem westlichen Nachbarn aufzunehmen. Sie tat dies nur halbherzig. Und weil auch die Schweizer nicht so richtig wollten, versandete der Volkswille der Vorarlberger schliesslich. Und so verblieb die Region nach Abschluss der Friedensverhandlungen in Saint-Germain im September 1919 bei Österreich.

Nicht geblieben ist Felix Calonder. Das politische Geplänkel um eine eventuelle Integration der Region Vorarlberg in die Schweiz beendete die politische Karriere des Bündner Politikers. In einer Rede im Ständerat hatte er sich sehr weit aus dem Fenster gelehnt und unter anderem die Deutschen verärgert. Er warf ihnen Imperialismus vor und warnte die kleine Kammer, ihnen den Vorarlberg zu überlassen. Der Bundesrat distanzierte sich von dieser Meinung und beschleunigte dadurch die schon bestehende politische Isolation von Calonder. 1920 trat der Bündner Politiker zurück.

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