Verschüttet in Goldau
1806 verschüttete eine gewaltige Gerölllawine das Schwyzer Dorf Goldau. Menschen und Tiere starben, Häuser und Ställe wurden zerstört. Die Solidarität im Land war gross – es zeigte sich ein bisher nicht bekannter nationaler Zusammenhalt.
Den Holzfällern war die Sache nicht geheuer. Am Rossberg gegenüber von Goldau taten sich in letzter Zeit Spalten auf. Bäume standen plötzlich schief und hin und wieder war ein lauter Knall zu hören, wenn die langsame Bewegung des Bodens wieder eine mächtige Wurzel zerriss. Trotzdem verliess nur eine Familie das Dorf – zwei Tage bevor das Unglück geschah.
Das Drama war seit Urzeiten angelegt. Vor 25 Millionen Jahren hatten Flüsse Schutt ins Vorderland der Alpen getragen. Dieser verfestigte sich und die Alpenfaltung stellte das entstandene Gestein schräg. In der Eiszeit hobelte der Reussgletscher den Fuss des Rossbergs ab und von da an hing der Rossberg wie ein Damoklesschwert über dem Tal. In Goldau kümmerte das niemanden. Erstens lag das Dorf nicht unterhalb des Rossbergs, sondern auf einer Anhöhe auf der anderen Talseite. Zweitens hatte man keine Ahnung von Geologie und drittens war der Berg seit Menschengedenken ruhig gewesen. Allerdings hatte es auch seit Menschengedenken kaum je so viel geregnet. 1804 war nass, 1805 auch und 1806 ebenso. Der Regen löste den Kalk aus dem Untergrund in der Bergflanke und verwandelte ihn in eine schmierige Masse. Dadurch geriet der Berg in Bewegung.
Nach weiteren heftigen Niederschlägen tat sich am Nachmittag des 2. Septembers ein grösserer Riss auf, Felsstücke stürzten in den Wald und wenig später geriet die Flanke auf einer Fläche von 500 mal 1500 Metern ins Rutschen. Krachend und berstend schlitterte der Hang ins Tal, nahm immer weiter Fahrt auf und blieb nicht einfach am Talboden liegen, sondern brandete auf der anderen Talseite wieder hoch – und über Goldau hinweg.
Stimmen die Beobachtungen, dann hatte der Sturz ein Tempo von 150 bis 250. 36 Millionen Kubikmeter Fels donnerten ins Tal. Die Flutwelle im Lauerzersee war 20 Meter hoch. Der Schuttmantel 30 Meter dick. Und in Goldau fanden 457 Menschen den Tod. Zahlen – ein alberner Versuch, das Unfassbare zu begreifen. Wer einen besseren Eindruck bekommen will, geht am besten nach Goldau und versucht sich vorzustellen, wie die häusergrossen Felsblöcke auf die andere Talseite gelangen konnten.
Schon am Tag nach der Tragödie trafen Helfer aus Zug und Luzern ein, wenig später weitere Hilfe aus dem ganzen Land. Und kurz darauf wurde eine landesweite Spendensammlung organisiert. Das ist das einzig Tröstliche an der Geschichte: In Goldau erfuhr die Schweiz einen nationalen Zusammenhalt, der bisher erst einmal vorgekommen war − nach dem Massaker durch die Franzosen in Stans 1798. Die sogenannten «Liebesgaben» für die betroffene Bevölkerung waren damals aus dem ganzen Land eingetroffen und Johann Heinrich Pestalozzi kam nach Nidwalden, um sich der Waisenkinder anzunehmen.
Aber zurück nach Goldau. Bis das Dorf neu aufgebaut war, dauerte es trotz nationaler Solidarität lange. Und zu Bedeutung kam der Ort erst wieder mit dem Bau der Gotthardbahn.