Das Matterhorn, fotografiert von Jean Adolphe Braun, im 19. Jahrhundert.
Schweizerisches Nationalmuseum

Absturz am Horn

Mitte des 19. Jahrhunderts stieg das Interesse für die Schweizer Bergwelt. Daran war nicht zuletzt ein spektakulärer Absturz am Matterhorn verantwortlich.

Benedikt Meyer

Benedikt Meyer

Benedikt Meyer ist Historiker und Autor.

Bevor sie tot waren, waren sie oben. Beim Abstieg vom Matterhorngipfel strauchelte Douglas Hadow in einer eisigen Passage und fiel auf den vor ihm gehenden Michel Croz. Hinter den beiden wurden die am selben Seil gesicherten Reverend Charles Hudson und Lord Francis Douglas mitgerissen. Ungebremst schlitterten die vier über die Felswand. 1000 Meter stürzten sie in die Tiefe.

Oben am Horn stand Vater Taugwalder schwer atmend in der Wand. Geistesgegenwärtig hatte er das Seil um einen Felsen geschlungen – und damit verhindert, dass er selbst, sein Sohn und Edward Whymper ebenfalls in die Tiefe gerissen wurden. Eine halbe Stunde verharrten die drei geschockt am Berg, nur noch 300 Meter Abstieg schafften sie an jenem 14. Juli 1865. In eisiger Kälte verbrachten sie die Nacht.

Die Besteigung des Matterhorns war Höhepunkt und Ende einer Epoche. Seit rund 30 Jahren kletterten reiche Engländer begleitet von Schweizer Bergführern auf die Alpengipfel. Ein Unterfangen, das früheren Generationen absurd erschienen wäre: Eis, Kälte und Dämonen wohnten da oben. Deshalb steckte man in Luzern 1387 sechs Geistliche ins Gefängnis, nachdem sie (erfolglos) zum Pilatus-Gipfel aufgebrochen waren.

Bergführer wie Aloys Anthamatten führten reiche Engländer ins Gebirge.
Schweizerisches Nationalmuseum

Der Absturz am Matterhorn aus «Daring deeds of great mountaineers», 1921.
Wikimedia

Erst Ende des 18. und vor allem Anfang des 19. Jahrhunderts wurden die Alpen zu Orten der Sehnsucht – wenigstens für den Adel Europas. Jener hatte Byron, Goethe, Schiller oder de Saussure gelesen und fuhr mit Postkutschen – und später Eisenbahnen – in die Berge, wo mehr und mehr Strassen gebaut und Hotels eröffnet wurden. Und Bergbauern wie die Taugwalders die Fremden gegen Geld in eisige Höhen brachten.

Diese brachen am Morgen nach dem Unglück um halb vier mit ihrem überlebenden Gast wieder auf und stiegen hinunter nach Zermatt, wo sich die Nachricht von Triumph und Tragödie am Horn eilig verbreitete. Bald machten Gerüchte die Runde: Warum dieses schwache Seil? Hatte Taugwalder es durchschnitten? Hatte Whymper ein beim Aufstieg verwendetes, stärkeres Seil zerschnitten um als Erster auf dem Gipfel zu sein? Die «Times» publizierte in einem Monat über 40 Artikel zur Tragödie, Queen Victoria erwog ein Verbot alpinistischer Expeditionen.

Einzige Gewinnerin des Dramas war Zermatt. Das Bergdorf wurde weltbekannt und entwickelte sich zu einer der wichtigsten Destinationen des nun immer stärker einsetzenden alpinen Tourismus. Immer mehr Reiseführer, -berichte und -bücher fachten die Faszination für den Alpenraum an. Eines der einflussreichsten erschien sechs Jahre nach dem Drama am Matterhorn. Sein Titel: «The Playground of Europe».

Aufschluss über die Ereignisse am Berg könnte das Seil geben, das Douglas mit Taugwalder verband. Aber Taugwalder warf sein Ende des kaputten Seils weg. Und Douglas‘ Leiche wurde als Einzige nie gefunden.

Doku «Tod am Matterhorn – Die tragische Geschichte der Erstbesteigung».
Schweizer Fernsehen SRF

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