Denkfabrik
Vor 125 Jahren wurde die Schweizerische Nationalbibliothek gegründet. Sie war Archiv, Fabrik und Bergwerk. Heute findet sie immer mehr in der Wolke statt.
Sieben Etagen unter die Erde reicht das Tiefmagazin der Schweizerischen Nationalbibliothek. Auf fast dreissig Meter unter Grund lagert ein Bestand von rund sieben Millionen Medien. Von Büchern über Plakate bis zu Zeitungen ist hier eine riesige Masse an Publikationen versammelt. Gemeinsam ist ihnen allen der Bezug zur Schweiz: Es sind Helvetica. Diese zu sammeln, war eine alte bildungsbürgerliche Idee. Das ganze Wissen über die Schweiz sollte in einer nationalen Bibliothek zusammenfinden.
Im ausgehenden 19. Jahrhundert fand dieses Ansinnen eine Mehrheit in den eidgenössischen Räten. Zu diesem Entscheid trug auch ein ausgeprägtes Bedürfnis nach einer Inszenierung des Nationalen bei. Das bezeugt auch das 1898 eröffnete Landesmuseum in Zürich. Bereits am 2. Mai 1895 nahm die Nationalbibliothek ihren Betrieb auf – damals noch unter dem Namen «Landesbibliothek». Platz für das versammelte Wissen über die Schweiz bot ihr eine Vierzimmerwohnung an der Christoffelgasse 7 in der Berner Altstadt.
Archiv
Die enge Wohnung und der weite Sammlungsauftrag bildeten allerdings kein stabiles Paar. 1899 zog die Nationalbibliothek in den Nordflügel des heutigen Bundesarchivs um. Dieser Umzug brachte den dringend benötigten zusätzlichen Raum. Und er markierte eine entscheidende Wende: Jetzt gestatteten es die Platzverhältnisse, die Bibliothek für das Publikum zu öffnen. Mit dem Grundsatz der allgemeinen Zugänglichkeit unterschied sich die Nationalbibliothek von ihren wesentlich älteren und monarchisch geprägten Nachbarn in Paris oder Wien. Die Schweiz zeigte sich in ihrer Bibliothek dezidiert republikanisch. Bern setzte auf eine Bevölkerung, die sich informieren konnte. In der Nationalbibliothek sollte diese das gesamte publizierte Wissen zu ihrem Land abgreifen, über Sprach-, Kantons- und Generationengrenzen hinweg. Sogar die Heimausleihe – im Ausland undenkbar – wurde hier für einen Grossteil des Bestands selbstverständlich. Bis heute verfügt die Nationalbibliothek sogar über eine kostenlose Fernleihe. Die Nationalbibliothek ist konzipiert als Gedächtnis von der Schweiz für die Schweiz.
Fabrik
Nach drei Jahrzehnten sprengte die Masse der Helvetica auch die Sandsteinmauern des Archivbaus. Am 31. Oktober 1931 verliess die Nationalbibliothek das Bundesarchiv und siedelte einen Häuserblock entfernt in einen eigens erstellten Neubau. Um die immer weiter wachsenden Bestände unterzubringen, hatten die Architekten einen achtstöckigen Bücherturm errichtet. Stilistisch hob sich das Haus an der Hallwylstrasse 15 von seinen klassizistischen Nachbarn ab. Die neue Nationalbibliothek war modern. Beton, Glas und Stahl verliehen dem Gebäude im Bauhaus-Stil einen unscheinbaren, aber einladenden Charakter. Im Innern sorgten klare Formen und viel Licht für eine konzentrierte Stimmung: Diese Bibliothek war kein Palast, sondern eine Denkfabrik. Wer wollte, konnte sich hier informieren, bilden, entwickeln – zum eigenen und zum nationalen Wohl. Dass wirklich beides stimmte, überprüfte die Saalaufsicht, die eine Gefährdung der Bücher und Bestände mit gestrengem Blick anmahnte.
Bergwerk
Für die Bücher erwiesen sich nicht nur die Besucher, sondern auch das viele Licht als Gefahr. Zur Aufgabe der Nationalbibliothek gehört neben dem Vermitteln auch das Erhalten der Helvetica. Die meisten Benutzerinnen und Benutzer wissen, dass fettige Finger und umstürzende Kaffeetassen den Horror der Bestandserhaltung verkörpern. Dass auch ein lichtdurchfluteter Bücherturm einen konservatorischen Alptraum darstellt, wurde immer klarer. Das viele Licht bleichte die Bücher aus und machte sie brüchig. Um das Papier und seine Buchstaben zu schützen, grub sich die Bibliothek in den 1990er-Jahren tief in die Erde. Heute werden die Bücher, Bilder, Manuskripte, Fotografien, Disketten, Plakate, Videokassetten und weitere Helvetica bei klimatisch idealen Bedingungen in zwei Tiefmagazinen aufbewahrt. Geordnet sind die Bestände auf diesen fünf respektive sieben Untergeschossen nach ihrer Grösse. Das spart Platz. So sollten die Reserven noch für knapp zwei Jahrzehnte reichen. Im Übrigen ist der öffentliche Zutritt zu diesem Bergwerk virtuell. Die Datenbank hat die Zettelkästen endgültig abgelöst. Die begehrten Schätze lassen sich über den Online-Katalog aus der Tiefe heben.
Wolke
Dabei war die Nationalbibliothek in Sachen Digitalisierung eine Spätzünderin. Erste Überlegungen zur «Automation» entstanden bereits in den frühen 1960er-Jahren. Die effektive Arbeit an einem integrierten elektronischen Bibliothekssystem begann aber erst 1992. Seither investierte die Nationalbibliothek immer mehr ihrer Ressourcen in ihre digitale Präsenz. Von einem Online-Zeitungsarchiv bis zur Fotosammlung von Annemarie Schwarzenbach gibt es zahlreiche Beispiele für den Umzug der Bibliothek in den digitalen Raum. Die Wolke an allgemein zugänglichen und digital gespeicherten Beständen wird immer grösser. Wer sich informieren, bilden, entwickeln will, kann das mehr und mehr von zu Hause aus besorgen. Diese neuen Zugänge zum Wissen über die Schweiz ergänzen die traditionelle Bibliotheksarbeit. Fürs Lernen, Träumen, Staunen, Entdecken, Diskutieren oder Flirten bleibt der handfeste Beton der Denkfabrik derweil ein sicherer Raum.
Die Schweizerische Nationalbibliothek feiert 2020 ihr 125-jähriges Bestehen. Zum Jubiläum zeigt sie die Ausstellung Sharing, veranstaltet diverse Events und veröffentlicht ein Bibliotheksbuch.
Aufgrund der Massnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus wird das Jubiläumsprogramm laufend angepasst. Die Webseite informiert über das aktuelle Programm und die Öffnung der Nationalbibliothek.