Zeichnung der Hungersnot von 1816, dem «Jahr ohne Sommer». Menschen im Toggenburg essen Gras auf den Weiden.
Toggenburger Museum Lichtensteig

Franken­steins Sommer

1815 erschuf ein Vulkanausbruch in Indonesien ein Monster, das ein Jahr später als Kälte- und Unwetterwelle Europa heimsuchte. Am Genfersee erblickten derweil im «Jahr ohne Sommer» zwei Monster der Weltliteratur das Zwielicht der Welt.

Benedikt Meyer

Benedikt Meyer

Benedikt Meyer ist Historiker und Autor.

Was für ein Sauwetter! Gewitter peitschten über den Genfersee und in einem Landhaus in Cologny rückte Mary Godwin noch etwas näher ans Kaminfeuer. Da machte sie einmal eine Reise in die Schweiz und dann das: endlose Regentage und Schneefall mitten im Sommer. Also vertrieb sie sich die Zeit mit dem Schreiben von Gruselgeschichten. Später würde sie diese ihren Begleitern vorlesen: Mister Shelley, Lord Byron, Miss Clairmont und Mister Polidori.

Der Grund für das Sauwetter lag auf der anderen Seite des Planeten und hiess Mount Tambora. Als der Berg am 10. April 1815 explodierte, war der Knall 3000 Kilometer weit zu hören. Beim grössten Vulkanausbruch in der Menschheitsgeschichte wurden etwa 150 Kubikkilometer Asche in die Atmosphäre geschleudert – und die veränderten das Klima. In Europa waren zunächst einfach aussergewöhnlich farbige und intensive Sonnenuntergänge zu beobachten. Aber dann kam der Winter – und der blieb.

Im Sommer 1816 gab es 80 Prozent mehr Regentage als normal, die Temperatur war um 2,5 Grad zu tief. Noch im Juli schneite es mehrfach bis ins Flachland. Am schwersten traf es den Osten des Landes und dort besonders Regionen wie Glarus oder das Zürcher Oberland, wo die Menschen gerade von der Landwirtschaft auf die Textilproduktion umstiegen und deshalb auf den Import von Getreide angewiesen waren. Dieses blieb aus und die Preise schossen mancherorts auf das Sechsfache. In Appenzell-Innerrhoden verhungerte etwa ein Zehntel der Bevölkerung. In der Not wurden gedörrte Kartoffelschalen verschlungen, Brei aus Knochenmehl oder zerriebenem Heu gekocht oder Katzen und Hunde gegessen.

Frankenstein ist in der Film- und Literaturwelt bis heute ein Renner. Das Buchcover dieser Veröffentlichung von 1972 gestaltete Celestino Piatti.
Schweizerisches Nationalmuseum

Die Not offenbarte auch ein Versagen der Eliten: Jeder Kanton schaute für sich – und schloss die Grenzen für Getreideexporte. Dabei hatte der Bundesvertrag von 1815 genau das eigentlich verboten. Während in der Ostschweiz gehungert wurde, kam etwa das Wallis glimpflich davon. Ebenso Genf. Dort tauchten Stürme den See in ein seltsames Licht und Mary Godwin ihre Feder ins Tintenfass. «Frankenstein» nannte sie ihren Protagonisten, der ein Monster schuf. Und Mister Polidori trug eine Geschichte vor, in welcher er den Naturgeist «Vampyr» erstmals als bleichen Aristokraten darstellte. Blitz, Donner und zwei neue Figuren in der Weltliteratur.

Die Ernten waren kläglich und spät. Erst im November las man die Trauben – unreif und praktisch nicht geniessbar. Die Nahrungsmittelpreise stiegen rasant an. Teilweise mussten die Menschen für die gleichen Produkte sechs mal mehr bezahlen als in einem normalen Jahr. Und die Krise war noch nicht zu Ende. Als sich die Temperaturen im Frühling 1817 normalisierten, schmolzen in den Bergen enorme Schneemassen. Überschwemmungen waren die letzte Folge des kältesten Sommers der letzten Jahrhunderte.

Handzeichnung zum Gedenken an die Hungersnot von 1816-1817.
Schweizerisches Nationalmuseum

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