Modell des «Überfalldenkmals» von 1898 in Erinnerung an den Franzoseneinfall in Nidwalden 1798.
Eduard Zimmermann (1872–1949), Modell des «Überfalldenkmals» von 1898 in Erinnerung an den Franzoseneinfall in Nidwalden 1798 (Ausschnitt). Nidwaldner Museum, Stans

Nidwalden 1798 –
Erinne­rung ist machbar

Vergangenheit ist unveränderlich, Geschichte und Erinnerung wandeln sich. Auch «Zeitzeichen für die Ewigkeit» sind stets Zeichen ihrer Zeit. Historisch verstehen heisst einordnen im Damals.

Kurt Messmer

Kurt Messmer

Kurt Messmer ist Historiker mit Schwerpunkt Geschichte im öffentlichen Raum.

«Glorreiche Siege» im Gedächtnis einer Gesellschaft wachhalten ist einfach – sieht man vom Schwierigen ab. An katastrophale Niederlagen öffentlich zu erinnern wird zur ultimativen Herausforderung. Das kollektive Trauma, das die Nidwaldnerinnen und Nidwaldner 1798 in den Kämpfen gegen die Franzosen erlitten, führte zu einer Wunde, die über Generationen hinweg offen blieb, auch offen gehalten wurde. Um den kollektiven Schmerz zu lindern, versuchte man die Verletzungen mit imaginären Gegenwelten zu überdecken. Verständlich. Aber die Geschichte wurde dabei auf den Kopf gestellt.

«Mutig, trotzig, selbstbestimmt»

Der Leitspruch der Dauerausstellung im Nidwaldner Museum in Stans verweist auch auf die Franzosenzeit. Bereits im Januar 1798 danken die Gnädigen Herren in Luzern ab. Im April nimmt Obwalden die Helvetische Einheitsverfassung an. Nidwalden dagegen weigert sich, und die Landsgemeinde tagt trotz Verbot. Mehrere Vermittlungsversuche scheitern. Ende August wird das Ultimatum des Helvetischen Direktoriums von Stans nicht einmal beantwortet. Geistliche, allen voran der Kapuzinerpater Paul Styger, stacheln zum unbedingten Widerstand an.
Kapuzinerpater Paul Styger, 1802.
Kapuzinerpater Paul Styger, ein Widerstandskämpfer im geistlichen Stand und Kleid. Auf der Brust ein Kruzifix, mit Schwert und Pistole zu einer Dreiheit geformt. Die Losung lautet: «Das Kreuz ist unser Freiheitsbaum!» Styger wird vom Schweizer Provinzialminister der Kapuziner des Landes verwiesen und stirbt 1824 in der Toskana. Bild von 1802. Bernisches Historisches Museum
Der jährliche «Überfall-Gottesdienst» und das jährliche «Überfall-Schiessen» vermitteln in Nidwalden die Vorstellung, der Einmarsch der Franzosen am 9. September 1798 sei ein «Überfall» gewesen. Doch der «Tag des Jammers» war kein Überfall, sondern eine angedrohte Strafaktion, eine Katastrophe mit Ansage. Nach dem letzten Versuch zum Einlenken vergehen nochmals zehn Tage, bis Schauenburg den Angriff auslöst. 17'700 Franzosen gegen 1'600 Nidwaldner.

Aus Besiegten werden Sieger

Rund 100 Franzosen und 100 Nidwaldner verlieren ihr Leben in erbitterten Kämpfen. Weitere 300 Frauen, Männer und Kinder sterben bei grässlichen Massakern. Die französischen Offiziere können ihre Soldaten kaum im Zaum halten. Abgebrannt und zerstört werden: 1 Kirche, 8 Kapellen, 336 Häuser, 179 Ställe, 20 Speicher, 14 Alphütten, 1 Wachtturm, 5 kleine Gebäude. Verheerend.
Nicolas Pérignon (1726–1782), Stans von der Bluematt aus
Kolorierte Kampfszene, um 1820, aufgemalt von unbekannter Hand
Nicolas Pérignon (1726–1782), Stans von der Bluematt aus. Die Lithografie links datiert vor 1782, die kolorierte Kampfszene rechts um 1820, aufgemalt von unbekannter Hand. Auf das Bild klicken und Slider verschieben um die Bilder zu vergleichen. Kantonsbibliothek Nidwalden, Stans / Privatbesitz Klaus von Matt, Stans, Silvan Bucher
«Siegeshall» im Sempacher Kampflied «Lasst hören aus alter Zeit», 1836, «Jammer» in Stans? Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Eine Darstellung im «Zürcher Kalender» wird 1838 zum Fanal: «Würsch‘s Kampf mit sieben Franzosen». Ein einziger Nidwaldner setzt sich gegen siebenfache Übermacht durch. Bezeichnend, dass man nicht einmal seinen Vornamen kennt. Was soll’s, es geht nicht um «Würsch», sondern um die Botschaft. David gegen Goliath. Dieses Motiv zieht sich durch. Auf einer Darstellung von 1893 behauptet sich Franz Waser, genannt «Zingg», Kanonier, vom Berggut «Zinggli» am Ennetbürgen, gegen fünf Franzosen. Die Trommel am Boden, das Fell zerstört. Offiziere und Tambouren gehören zu den ersten Opfern der Nidwaldner Scharfschützen. Die eigene Kanone hat Zingg bereits im See versenkt, damit sie nicht den Franzosen in die Hände fällt. Obwohl er sich nur noch mit einem Kanonenputzer wehren kann, entkommt er der feindlichen Übermacht.
Der Abwehrkampf von Franz Waser, genannt Zingg, bei Kehrsiten, 1893.
Der Abwehrkampf von Franz Waser, genannt Zingg, bei Kehrsiten, 1893. ZHB Luzern
Im Gegensatz zu Würsch hat Zingg zwar ein persönliches Profil, aber er wird anonymisiert. Der linke Arm verdeckt sein Gesicht. Das macht ihn unkenntlich. Zingg wird zum Nidwaldner «Jedermann». Selbst mit ihrer Uniform bieten die Verteidiger den Angreifern Paroli. Auf manchen Votivtafeln sind die Gegner fast nicht auseinander zu halten. Das entspricht nicht den Tatsachen. Die Nidwaldner kämpften in Alltagskleidern.

Im Helden-Modus gefangen

Ein Holzschnitt von Wilhelm Suter (1806–1882) trägt den Titel «Die Franken in Unterwalden». Man reibt sich die Augen, muss die Franken im dunklen Vordergrund erst suchen. Hell, inmitten der grausigen Runde, eine unversehrte Lichtgestalt. Wer nicht sofort an Wilhelm Tell denkt, ist selber schuld. Am Hut ein Zweig der mächtigen Eiche, die ihre Äste schützend über den triumphierenden Sieger hält und mit ihrem ehrwürdigen Alter zum Symbol für Unvergänglichkeit wird. – Nur ging der Kampf ganz anders aus.
Wilhelm Suter (1806–1882), Die Franken in Unterwalden, Holzschnitt, vor 1882.
Wilhelm Suter (1806–1882), Die Franken in Unterwalden, Holzschnitt, vor 1882. ZB Zürich
Ferdinand Hodler (1853–1918), Wilhelm Tell, 1897.
Ferdinand Hodler (1853–1918), Wilhelm Tell, 1897. Kunstmuseum Solothurn
Im Rahmen von Jahrhundertfeiern werden damals rundum grandiose Festspiele aufgeführt, 1886 in Sempach, 1891 in Bern und Schwyz. Sie lassen aufleben, wie «glühende Siegeshoffnung» einst zu glänzenden Triumphen trug. Wie soll in dieser Zeit national-heroischer Aufwallung die traumatische Niederlage von 1798 dargestellt werden? Zum Ausweg wird grenzenlose Überhöhung: einer gegen fünf, einer gegen sieben.
500-Jahr-Feier der Schlacht bei Sempach, 1886.
500-Jahr-Feier der Schlacht bei Sempach, 1886. ZHB Luzern
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Holzsschnitt zur 700-Jahr-Feier der Gründung der Stadt Bern, 1891.
Holzsschnitt zur 700-Jahr-Feier der Gründung der Stadt Bern, 1891. Ireck Andreas Litzbarski / Flickr
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600-Jahr-Feier der Gründung der Eidgenossenschaft, Schwyz 1891.
600-Jahr-Feier der Gründung der Eidgenossenschaft, Schwyz 1891. Schweizerisches Nationalmuseum
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1898, 100 Jahre nach dem Franzoseneinfall, ergibt sich die Möglichkeit, den Panzer von Schmerz, Trauer und Wut zu durchbrechen. Die damals Lebenden sind begraben, die jetzt Lebenden frei von persönlicher Verantwortung oder Schuld. Zu tragen ist die Last der Erinnerung, nicht des Geschehens von damals.

Chance vertan

Das Ergebnis vorweg: Im August 1900 wird auf dem Allweg mit zwei Jahren Verspätung das «Überfalldenkmal» eingeweiht. Die Inschrift auf dem Sockel besagt: «Das Volk von Nidwalden – Den Helden von 1798». Ein Dutzend Fahnendelegationen, ein würdiger Rahmen, eine verpasste Chance.
Einweihung des «Überfalldenkmals» auf dem Allweg in Ennetmoos am 26. August 1900.
Einweihung des «Überfalldenkmals» auf dem Allweg in Ennetmoos am 26. August 1900. Staatsarchiv des Kantons Nidwalden
Ein Denkmal-Obelisk hat eine altägyptische Aura, ist bei entsprechenden Proportionen nicht unelegant und bei ziemlicher Höhe ein Blickfang. Das hat man sich 1866 bereits in Neuenegg zunutze gemacht, 1888 auch in Näfels. Ein Denkmal-Obelisk kann nie falsch sein. Damit ist allerdings nicht gesagt, er sei stets richtig. Vorerst stehen die Zeichen für eine veritable Alternative günstig. Die Regierung will den Auftrag einem Einheimischen vergeben, zudem einem bedeutenden Vertreter seines Fachs. Beide Kriterien erfüllt der 1872 in Stans geborene Eduard Zimmermann. Nach zwei Jahren an der Kunstgewerbeschule in Luzern geht er für drei Jahre nach Florenz und schliesst dort seine Studien mit höchsten Auszeichnungen ab. Just 1897 kehrt er nach Stans zurück, prädestiniert für den ehrenvollen Auftrag, für den er vorerst einen Entwurf anzufertigen hat.
Theodor von Deschwandens Schütz Christen, Verkörperung des Widerstands, 1856
Theodor von Deschwanden (1826–1861), Schütz Christen, Verkörperung des Widerstands, 1856. Nidwaldner Museum, Stans
Winkelried-Denkmal in Stans von Ferdinand Schlöth.
Ferdinand Schlöth (1818–1891), Winkelried-Denkmal, Stans, 1865. Wikipedia
Eduard Zimmermann lässt sich von zwei Künstlern inspirieren: zum einen vom Stanser Maler Theodor von Deschwanden und seinem Bild von Schütz Christen; zum andern vom Bildhauer Ferdinand Schlöth und seinem Denkmal auf dem Stanser Dorfplatz. In beiden Werken sind drei Personen meisterhaft zu einer Pyramide geformt.
Modell des «Überfalldenkmals» von 1898 in Erinnerung an den Franzoseneinfall in Nidwalden 1798.
Eduard Zimmermann (1872–1949), Entwurf zum «Überfall-Denkmal» 1898. Nidwaldner Museum, Stans
Zimmermann übernimmt die Pyramide als Grundform, deutet sie aber um. Nicht mehr ein Meisterschütze wie bei Deschwanden oder ein kraftstrotzender Jüngling wie bei Schlöth krönt die Dreier-Gruppe, sondern eine verzweifelte Frau, die sich an den Kopf greift, weil sie nicht mehr ein und aus weiss. Ihr Mann liegt tödlich verletzt zu ihren Füssen, der Bub ergreift das Gewehr, das der sterbende Vater noch immer in der Hand hält und will an dessen Stelle treten. Die nachfolgende Generation führt den Kampf für die gerechte Sache fort. Trotz dieser Geste des Widerstands: als Grundstimmung schiere Verzweiflung.

Verbotene Frage

Das allein kann bereits als Tabubruch verstanden werden. Eduard Zimmermann geht aber entscheidend darüber hinaus. Er stellt die verbotene Frage, beinahe versteckt, man kann sie übersehen, wenn man will, aber sie ist gestellt: War es richtig, Widerstand zu leisten? Oder noch bohrender: Haben sich die Opfer gelohnt? Zimmermann stellt die kapitale Frage nicht brachial, verletzend. Sein Denkmalentwurf verkörpert vielmehr die Kunst der leisen Töne, der Anspielung, des Deutungsangebots.

Beiläu­fi­ger Todesstoss

Die Realisierung scheint auf gutem Weg. Der Landrat bewilligt einen Kredit von 1‘500 Franken «unter der Bedingung, dass der Entwurf von fachkundiger Seite geprüft werde». In dieser Kommission vertritt Landammann und Baudirektor Ferdinand Businger (1839–1909) die Regierung. Robert Durrer (1867–1934), der hoch angesehene Kunsthistoriker und Archivar in Stans, hält sich zurück. Das Feld beherrscht der massgebende Fachmann, Pater Albert Kuhn von Einsiedeln (1839–1929), erprobt in 400 ähnlichen Kommissionen. Er verfasst denn auch das Gutachten. Allerdings stützt er sich bloss auf die Fotografie des zweiten Denkmalentwurfs, ohne das plastische Modell des dritten Entwurfs abzuwarten. In Kuhns Bericht wechseln Licht und Schatten auf irritierende Weise. Der sterbende Krieger sei «in Haltung und Ausdruck ganz vortrefflich gefasst, das Weib ebenso vorzüglich modelliert, schwächer der Jüngling», hält Kuhn fest. Auf dieses Lob folgt nahtlos der Bannstrahl: «Die Darstellung ist zu allgemein gehalten, zu wenig individualisiert. Man könnte ganz wohl darunter schreiben: der im Strassenkampf gefallene Sozialist, der verunglückte Jäger, eine Familientragödie.» Kuhn hätte nicht mehr weiterschreiben, der Landrat nicht mehr weiterlesen müssen. Durchgefallen. «Der im Strassenkampf gefallene Sozialist».

Vom Magazi­nie­ren und Wieder­be­le­ben von Denkmälern

Dass heute über Denkmäler, die einstigen «Zeitzeichen für die Ewigkeit», diskutiert wird, ist eine längst fällige Debatte. Denkmäler soll und kann man ebenso wenig abräumen wie andere historische Quellen. Den Nachgeborenen ist aber die Möglichkeit gegeben, anders mit ihnen umzugehen. 2023 jährt sich das Gedenken an den Franzoseneinfall in Nidwalden zum 225. Mal. Das wäre eine Gelegenheit, das «Überfalldenkmal» von Eduard Zimmermann aus dem Magazin des kleinen, aber feinen Nidwaldner Museums zu holen, aus dem Gipsmodell ein wetterfestes Objekt zu machen und es im öffentlichen Raum aufzustellen, als Einladung zum Nachdenken über die Vergangenheit. 1798 bleibt 1798. Erinnern aber hat Potenzial.

1798 – Geschich­te am Schauplatz und fernab

Am 9. September 2020 wurde der Gemeinde Stansstad das Projekt «1798 – Franzoseneinfall in Nidwalden. Erinnerungswege am Bürgenberg» übergeben. An elf Stationen im Gelände erzählen französische Soldaten und Offiziere, Nidwaldnerinnen und Nidwaldner vom «schröcklichen Tag», konsequent aus zwei Perspektiven. Es gibt einen Flyer, Infos vor Ort, «historischen Proviant» für unterwegs und eine Homepage für Handy und Homeoffice.

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