Walter Stucki auf dem Flugplatz in Dübendorf, April 1946.
Walter Stucki auf dem Flugplatz in Dübendorf, April 1946. ETH Zürich

Der Retter von Vichy

Wie der Berner Diplomat Walter Stucki (1888–1963) die französische Stadt Vichy dank seinem Verhandlungsgeschick vor der Zerstörung rettete und ein Blutvergiessen verhinderte.

Landry Charrier

Landry Charrier

Germanist, Dozent (HDR) an der Université Blaise Pascal Clermont-Ferrand.

Wir schreiben den 19. August 1944. Als Gesandter der Schweiz in Frankreich befindet sich Walter Stucki seit fast vier Jahren in Vichy. An diesem Tag erfährt er, dass General Alexander Neubronn von Eisenberg, der die Wehrmacht in Vichy kommandiert, soeben den Befehl erhalten hat, Marschall Pétain zu verhaften – sonst würde die Stadt bombardiert. Das ist der Beginn einer äusserst ereignisreichen Zeit für den Diplomaten in der Tradition der Guten Dienste.
Vichy aus der Luft, um 1945.
Vichy aus der Luft, um 1945. ETH Zürich
Auf Ersuchen von engen Freunden des französischen Staatschefs, erklärt sich Stucki sofort bereit, die Rolle des Vermittlers zu übernehmen und sich bei Neubronn für Pétain einzusetzen, denn er weiss, dass der General einer ist, mit dem es sich reden lässt. Trotzdem laufen die Verhandlungen zäh. Zunächst scheint es keinen Ausweg zu geben. Dank seiner Hartnäckigkeit gelingt es Stucki jedoch, eine Lösung zu erzwingen, welche die Ehre des Marschalls rettet und zugleich die Forderungen der Deutschen erfüllt: Die Gittertore und Türen des Hôtel du Parc werden geschlossen und müssen von den Deutschen am nächsten Tag in aller Frühe aufgebrochen werden. Die Wachsoldaten werden ihnen keinen Widerstand leisten. Die Gewehre auf beiden Seiten bleiben ungeladen. Dann wird die Tür zu Pétains Appartement eingedrückt und der Marschall gefangen genommen. Die Festnahme findet am darauffolgenden Tag im Beisein von Stucki statt, der gekommen ist, um sicherzugehen, dass die Sache wie vereinbart über die Bühne geht. Zu diesem Zeitpunkt sind Pétain und Laval zwar noch nicht offiziell zurückgetreten, aber die Zeit dieses politischen Regimes der Kriegszeit ist abgelaufen. Stuckis Mission ist aber noch nicht zu Ende.
Marschall Pétain und Pierre Laval in Vichy, um 1942.
Marschall Pétain und Pierre Laval in Vichy, um 1942. Wikimedia
In der Stadt herrscht eine fieberhafte Atmosphäre. Die Angst geht um, dass es zu einem Zusammenstoss zwischen dem Maquis, wie die Résistance auch genannt wurde, der Vichy schnell einnehmen will, der Miliz des Vichy-Regimes und den Deutschen, die noch in Vichy und Clermont-Ferrand stationiert sind, kommen könnte. Obwohl die Schweizer Behörden Stucki zur raschen Rückkehr in die Schweiz bewegen wollen, beschwören ihn die Vertreter der alten Regierung, doch zu bleiben, um die Stadt vor schweren Unruhen zu bewahren. Der Schweizer Diplomat ist umso mehr gewillt, diesen Auftrag anzunehmen, als er glaubt, der Einzige zu sein, der diesen ausführen kann. Zugleich erreicht ihn aus dem Hauptquartier der Französischen Streitkräfte im Inneren (FFI) die Nachricht, man wolle ihn treffen, um über eine Vermittlung zu sprechen. Diese äusserst gefährliche Reise ins Hinterland (Region Mont-Dore) tritt er am 22. August 1944 an. Dort stellt Stucki eine Kühnheit und einen Scharfsinn unter Beweis, die mehr als herausragend sind.
Telegramm von Walter Stucki an Bundesrat Pilet-Golaz über die Verhaftung von Marschall Pétain vom 20. August 1944.
Telegramm von Walter Stucki an Bundesrat Pilet-Golaz über die Verhaftung von Marschall Pétain vom 20. August 1944. dodis.ch
Die Tage nach diesen Verhandlungen sind wiederum geprägt von intensiven Vermittlungsversuchen bei den im Rückzug begriffenen deutschen Einheiten und der Gestapo. Wiederum ist Stuckis Eingreifen entscheidend. Er trägt massgeblich dazu bei, dass die Machtübergabe am Nachmittag des 26. August vorschriftsgemäss und ohne Blutvergiessen vonstattengeht, und das trotz der Plünderungen, die die Miliz, welche im letzten Augenblick noch das Kurhaus – das Grand Établissement Thermal – einnimmt, begeht.
Walter Stucki wurde von der Bevölkerung von Vichy 1944 gefeiert.
Walter Stucki wurde von der Bevölkerung von Vichy 1944 gefeiert. KEYSTONE/IBA-ARCHIV/Str
Unmittelbar danach wird der Diplomat von der Stadtregierung Vichy empfangen und zum Ehrenbürger ernannt. Am 7. September kehrt Stucki in die Schweiz zurück. Als Dank für seine Vermittlertätigkeit schenkt ihm die Stadt Vichy im Jahr darauf ein 26-teiliges Geschirrservice aus massivem Silber. Seit 1957 trägt eine Strasse zwischen dem Stadtzentrum von Vichy und dem Parc Napoléon III seinen Namen.

Serie: 50 Schweizer Persönlichkeiten

Die Geschich­te einer Region oder eines Landes ist die Geschich­te der Menschen, die dort leben oder lebten. Diese Serie stellt 50 Persön­lich­kei­ten vor, die den Lauf der Schweizer Geschich­te geprägt haben. Einige sind besser bekannt, einige beinahe vergessen. Die Erzählun­gen stammen aus dem Buch «Quel est le salaud qui m’a poussé? Cent figures de l’histoire Suisse», heraus­ge­ge­ben 2016 von Frédéric Rossi und Christo­phe Vuilleu­mier im Verlag inFolio.

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