Die Eidgenossen vor Bellinzona und seinen Burgen, 1422.
Die Eidgenossen vor Bellinzona und seinen Burgen, 1422. Tschachtlan, Berner Chronik, 1470

Die Burgen von Bellinzona

Die Burgen von Bellinzona – Castelgrande, Montebello und Sasso Corbaro – zählen zu den beeindruckendsten Beispielen wehrhafter Architektur in der Alpenregion. Da sie den Zugang zu den Alpenpässen sicherten, waren diese spätmittelalterlichen Festungen von hohem Wert für das Herzogtum Mailand und ein begehrtes Ziel der Alten Eidgenossenschaft. Nach der Beteiligung der Schweiz an den Italienkriegen wurden die Burgen im Jahr 1500 von den Eidgenossen beschlagnahmt und sind bis heute in ihrem Besitz geblieben.

James Blake Wiener

James Blake Wiener

James Blake Wiener ist Historiker, Mitbegründer der World History Encyclopedia, Autor und PR-Spezialist, der in Europa und Nordamerika als Dozent tätig ist.

Aufgrund ihrer Lage am südlichen Zugang zu den Passrouten Gotthard, San Bernardino, Nufenen und Lukmanier hatte die Region um Bellinzona über Jahrtausende hinweg eine wichtige strategische Bedeutung. Bereits in der Jungsteinzeit (5500–5000 v. Chr.) besiedelten Menschen den Ort, an dem sich heute die Burg Castelgrande befindet. Nachdem Kaiser Augustus (reg. 27 v. Chr.–14 n. Chr.) das Tessin in das Römische Reich eingegliedert hatte, errichteten die Römer um das Jahr 1 n. Chr. dort ein Feldlager. Im Laufe der Jahrhunderte wurde es zu einer uneinnehmbaren Festung ausgebaut. In der Spätantike verstärkten die Ostgoten und die Langobarden ältere Verteidigungsstrukturen, um die Wege über die Alpen zu überwachen und die Region militärisch zu kontrollieren. Als Otto der Grosse (reg. 962–973 n. Chr.) im Rahmen seiner imperialen Italienpolitik die Pässe San Bernardino und Lukmanier eröffnete, wurde Bellinzona zum ersten Mal als Verwaltungsbezirk urkundlich erwähnt.
Ansicht der Stadt Bellinzona, im Volksmund «Bellentz» genannt, um 1642.
Ansicht der Stadt Bellinzona, im Volksmund «Bellentz» genannt, um 1642. Schweizerisches Nationalmuseum
Im Investiturstreit wurden Bellinzona und seine Burgen von Guelfen und Ghibellinen gleichermassen umkämpft. Die langwierigen politischen Konflikte zwischen regionalen Eliten, überregionalen Herrschern und kirchlichen Amtsträgern dauerten bis weit ins 14. Jahrhundert an und sorgten für Spannungen unter den norditalienischen Adligen. Während der Kämpfe der Rusca aus Como gegen die Visconti aus Mailand (1277–1447) wurde Bellinzona in den Jahren 1284, 1292 und 1303 von wechselnden Truppen belagert. Man vermutet, dass der Bau von Montebello auf die Zeit dieser zerstörerischen Familienfehden zurückgeht. Nachdem die Rusca im Jahr 1335 schliesslich Como verloren hatten, mussten sie den Visconti fünf Jahre später auch Castelgrande überlassen. Beeindruckt von der Hartnäckigkeit der Rusca, gestatteten die Visconti der Familie jedoch, Montebello zu behalten, das in der Nähe von Castelgrande auf einem Hügel 90 Meter über Bellinzona liegt.
Wie es der Name sagt, die grösste der drei Burgen von Bellinzona: Castelgrande.
Wie es der Name sagt, die grösste der drei Burgen von Bellinzona: Castelgrande. Wikimedia / Eduardo Manchon
Burg Montebello.
Burg Montebello. Wikimedia / Claudio Vosti
Burg Sasso Corbaro.
Burg Sasso Corbaro. Wikimedia / Clemensfranz

Mailands Blütezeit

Bellinzona florierte unter der Herrschaft Mailands. Der zunehmende Verkehr über die Alpen bereicherte sowohl die Lombardei als auch die Zentralschweizer Kantone Uri, Unterwalden und Schwyz. Doch die Eidgenossen beneideten ihre italienischen Nachbarn um ihren Wohlstand und suchten nach Möglichkeiten, Bellinzona unter ihre Kontrolle zu bringen. Nach dem Tod des Mailänder Herzogs Gian Galeazzo Visconti (reg. 1395–1402) packten die Schweizer die Gelegenheit beim Schopf. Die Adelsfamilie von Sax sowie die Kantone Uri und Unterwalden nahmen Bellinzona im Handstreich ein, konnten die Stadt und ihre Festungen aber nur zwei Jahrzehnte lang halten. 1422 gewannen die Mailänder die Schlacht bei Arbedo und eroberten Bellinzona zurück. Kurioserweise waren es die Schweizer, die den Anstoss für den Bau einer dritten Wehranlage gaben: Sasso Corbaro. Von der kleinsten der drei Burgen, die 230 Meter über der Stadt liegt, bietet sich ein wunderbarer Blick auf Castelgrande und Montebello. Die Mailänder stellten die Festung 1479 fertig – nach nur sechs Monaten Bauzeit.
Schlacht bei Arbedo 1422, bei der die Mailänder Bellinzona von den Eidgenossen zurückeroberten.
Schlacht bei Arbedo 1422, bei der die Mailänder Bellinzona von den Eidgenossen zurückeroberten. Rechts sind die drei Burgen zu sehen, links die Wappen der Eidgenossen und in der Mitte und auf den Zelten jene der Mailänder. Luzerner Schilling, S 23 fol., p. 75
Im Laufe des 15. Jahrhunderts wurden Castelgrande und Montebello von Mailänder Architekten und Soldaten unter den Visconti und später den Sforza (1450–1535) erweitert und bewehrt. Sie erneuerten auch die Murata – die Wehrmauer, die sich im Westen an Castelgrande anschliesst – sowie die Stadtmauer von Bellinzona. Damit war Bellinzona besser geschützt als je zuvor. Auch in weiteren Kämpfen in den Jahren 1449 (Schlacht bei Castione), 1478 (Schlacht bei Giornico) und 1487 (Schlacht bei Crevola) gelang es den Eidgenossen aufgrund der überlegenen Baukunst und des militärischen Könnens der Mailänder nicht, die Stadt einzunehmen.

Schweizer Kultur­er­be

Die Italienkriege (1494–1559) hielten das Herzogtum Mailand, die Alte Eidgenossenschaft und grosse Teile Europas in Atem. Der französische König Ludwig XII. (reg. 1498–1515) erhob aufgrund seiner Abstammung von der alten Visconti-Dynastie Anspruch auf Mailand und belagerte 1499 auch Bellinzona. Obwohl er versprochen hatte, Bellinzona als Gegenleistung für die Dienste Schweizer Söldner im französischen Heer abzutreten, hielt er sich nicht daran. Französische Truppen besetzten die Burgen im Winter 1499/1500 zum Verdruss der Bevölkerung von Bellinzona und der Eidgenossenschaft. 1500 baten die Bellenzer die Kantone Uri, Schwyz und Unterwalden um Unterstützung dabei, der Besatzung durch die verhassten Franzosen ein Ende zu machen. Hilfe nahte: Die Eidgenossen vertrieben die französischen Truppen ohne Blutvergiessen aus Bellinzona. In den 1503 und 1516 geschlossenen Verträgen zwischen den Franzosen und der Alten Eidgenossenschaft wurden die Ansprüche der Schweizer auf Bellinzona und das Tessin anerkannt. Seitdem sind die Stadt und ihre Verteidigungsanlagen im Besitz der Schweiz geblieben.
Einzug der Eidgenossen in Bellinzona, 1509.
Einzug der Eidgenossen in Bellinzona, 1509. Luzerner Schilling, S 23 fol., p. 632
Faksimile des Friedensvertrags von Freiburg von 1516 zwischen Frankreich und der Eidgenossenschaft.
Faksimile des Friedensvertrags von Freiburg von 1516 zwischen Frankreich und der Eidgenossenschaft. Der Vertrag brachte die Stadt Bellinzona und ihre Verteidigungsanlagen definitiv in den Besitz der Alten Eidgenossenschaft. Schweizerisches Nationalmuseum
Die drei Siegerkantone teilten die drei Burgen unter sich auf und brachten dort Garnisonen von je 80 Mann unter. Nach der Niederlage gegen die Franzosen in der Schlacht bei Marignano im Jahr 1515 schlug die Alte Eidgenossenschaft eine Politik der Neutralität ein, weshalb die Burgen von Bellinzona in den darauffolgenden Jahrhunderten ihre frühere Bedeutung verloren. Im selben Jahr wurde ein Teil der Murata des Castelgrande durch eine verheerende Überschwemmung des Ticino – die sogenannte «Buzza di Biasca» – zerstört, aber schon bald darauf auch wieder repariert. Mitte des 19. Jahrhunderts waren jedoch alle drei Burgen baufällig und verfallen. 1881 hatte der Verfall so grosse Ausmasse angenommen, dass der Kanton Tessin versuchte, Castelgrande zu verkaufen. Mit ersten Sanierungsarbeiten wurde nach 1900 begonnen; 1920–1955 folgten umfassendere Renovationen und Restaurationen. Auch heute werden auf den Burgen noch archäologische Arbeiten und erhaltende Massnahmen durchgeführt. Im Jahr 2000 erklärte die UNESCO die drei Burgen zusammen mit ihren Wehrmauern zum Weltkulturerbe. So präsentieren sich die Burgen heute ähnlich imposant, wie in John Murray’s Reisehandbuch von 1852 beschrieben:

Aus der Ferne präsen­tiert sich Bellin­zo­na, umgeben von Zinnen­mau­ern, die sich einst ganz über das Tal erstreck­ten und von nicht weniger als drei feudalen Burgen überragt werden, überaus imposant und malerisch. Es sieht so aus, als ob die Stadt auch heute noch, wie einst, den Durchgang durch das Tal befehlig­te. Die üppige Vegeta­ti­on und die herrli­chen Formen der Berge runden die Pracht des Bildes ab.

«A Handbook for Travellers in Switzerland». London: John Murray, 1852
Die Murata, die Wehrmauer, deren Aufgabe es war, die Talsohle zwischen der Burg und dem Fluss Ticino zu sperren, vor der Restaurierung, 1904.
Die Murata, die Wehrmauer, deren Aufgabe es war, die Talsohle zwischen der Burg und dem Fluss Ticino zu sperren, vor der Restaurierung, 1904. Schweizerische Nationalbibliothek

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