Das Ziel der Demonstrierenden der Bewegung Lôzane Bouge am 18. Oktober 1980 war die Avenue de Cour 16.
Das Ziel der Demonstrierenden der Bewegung Lôzane Bouge am 18. Oktober 1980 war die Avenue de Cour 16. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL

Lôzane Bouge: eine Demons­tra­ti­on, drei Perspektiven

Früher prägten Pressefotografien das öffentliche Bild beinahe exklusiv. Doch das änderte sich während der Jugendunruhen der 1980er-Jahre im Kampf um öffentlichen Freiraum. Foto- und Videokameras waren an allen drei Fronten dabei: Bei der Presse, den Demonstrierenden und der Polizei.

Menoa Stauffer

Menoa Stauffer

Menoa Stauffer studiert Zeitgeschichte und Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität Zürich und ist Teil der Redaktion der Studierendenzeitschrift Elfenbeintürmer (etü).

Lôzane Bouge wurde zum Schlagwort der Jugendbewegung in Lausanne. Die Bewegung formierte sich, als im Sommer 1980 am Lausanner Stadtfest Videoaufnahmen der Opernhauskrawalle in Zürich gezeigt wurden. Wie die Zürcher Jugendlichen forderte auch die Jugend in Lausanne ein autonomes Zentrum für mehr kulturelle Freiräume. Lange lehnte die Stadt dies ab. Die Folge waren Demonstrationen, die oft in Gewalt endeten. So auch am 18. Oktober 1980, als die Teilnehmenden mit dem Ziel loszogen, ein Haus der Avenue de Cour 16 zu besetzen. Drei Parteien waren vor Ort. Die Polizei, die Demonstrierenden und einige Pressefotografen. Alle Seiten waren bewaffnet mit Kameras. Dank der zu Beginn der 1970er-Jahre entwickelten Videotechnik  konnten auch die jungen Demonstrierenden eigene Filme mit wenig Geld erstellen. Die Aufzeichnungen der Verkehrskameras, die Pressefotos und die Videoaufnahmen zeigen zwar teilweise die gleichen Szenen, bezeugen aber drei verschiedene Sichtweisen und zugrundeliegende Motive.

Die Aufzeich­nun­gen der Verkehrs­ka­me­ra der Polizei

Samstag, 18. Oktober 1980, 14.00 Uhr, Place de la Gare. Rund 250 Demonstrierende versammeln sich. Das verrät die Stimme im Videoschnitt der Verkehrsüberwachungskameras der Lausanner Polizei. Die Kamera schwenkt über die Menge. Eine Person entdeckt sie und streckt ihr den Mittelfinger entgegen. Die Verkehrskamera zoomt raus: Auf frischer Tat ertappt. Sie hält noch fest, wie die Demonstrierenden davonziehen und ein Transparent ausbreiten, dann enden die Aufnahmen der Polizei. Die Videoaufnahmen von Lôzane Bouge übernehmen ab hier die Erzählung der Ereignisse.
Die Verkehrsüberwachungskamera der Polizei nimmt den davonziehenden Zug der Demonstrierenden vom Place de la Gare aus auf.
Die Verkehrsüberwachungskamera der Polizei nimmt den davonziehenden Zug der Demonstrierenden vom Place de la Gare aus auf. Archives de la Ville de Lausanne

Das Video der Bewegung Lôzane Bouge

Trommelschläge. Ein Puls, der durch den Film von einer Szene zur nächsten führt. Die Videoaufnahmen vom 18. Oktober stammen mitten aus der Menge der Demonstrierenden, zeigen Megafon und Banner, Verletzte und Verhaftungen von nah. Die Stimme im Off unterbricht die rhythmischen Schläge: «Wer wir sind? Männer und Frauen, Studierende, Arbeitende und Arbeitslose, Junge und weniger Junge, die ein freies, nicht vom Staat unterdrücktes Leben führen wollen. Wir weigern uns, Roboter zu werden.» Parolen rufend und mit Transparent ausgestattet, ziehen die Demonstrierenden weiter durch die Strassen, während sie mit ihren Videokameras filmen.
An vorderster Front und hautnah dabei filmt die Videokamera die Demonstrierenden mit dem Transparent.
An vorderster Front und hautnah dabei filmt die Videokamera die Demonstrierenden mit dem Transparent. Archives de la Ville de Lausanne

Die Presse­bil­der des Fotogra­fen der Agentur ASL

Die Demonstrierenden erreichen ein Gebäude der Ecole polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL). Sie wollen dort das erste autonome Jugendzentrum Lausannes einrichten. Diesen Moment hält ein Pressefotograf der Pressebildagentur ASL fest. Vorerst fotografiert er aus sicherer Distanz.
Das Transparent trägt die Botschaft: «Nous ne voulons pas d’un monde où la garantie de ne pas mourir de faim se paie par la certitude de mourir d’ennui!»
Das Transparent trägt die Botschaft: «Nous ne voulons pas d’un monde où la garantie de ne pas mourir de faim se paie par la certitude de mourir d’ennui!» (Wir wollen keine Welt, in der wir die Garantie, nicht vor Hunger zu sterben, mit dem Tod durch Langeweile bezahlen müssen). Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
Seine Aufnahmen zeigen zwei der Demonstrierenden auf dem Terrassendach, wie sie das Transparent an der inzwischen besetzten Villa aufhängen. Eine dritte Person auf dem Dach hält diesen Moment ihrerseits auf Video fest. Sie schwenkt die Kamera auch über die abwartenden Reihe einsatzbereiter Polizisten. Dort muss sich auch der Pressefotograf positioniert haben, wie der Perspektivenwechsel zeigt.
Zwei Personen hängen vom Terrassendach des besetzten Hauses aus das Transparent auf, während die Polizei abwartet. Die dritte Person auf dem Dach filmt beides.
Zwei Personen hängen vom Terrassendach des besetzten Hauses aus das Transparent auf, während die Polizei abwartet. Die dritte Person auf dem Dach filmt beides. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
Die Filmkamera zeigt die Sicht der Demonstrierenden vom Dach der Terrasse aus, während sie ihr Transparent aufhängen.
Die Filmkamera zeigt die Sicht der Demonstrierenden vom Dach der Terrasse aus, während sie ihr Transparent aufhängen.
Die Filmkamera zeigt die Sicht der Demonstrierenden vom Dach der Terrasse aus, während sie ihr Transparent aufhängen. Archives de la Ville de Lausanne

Die Hausbe­set­zung, Festnah­men und Aufnahmen

Das Bild zeigt die Ruhe vor dem Sturm. Kurz darauf forderte die Polizei die Hausbesetzenden per Megafon auf, sich zu stellen. Wer dies nicht tat, wurde mit Tränengas und Wasserwerfern vertrieben. Die Zeitungen berichteten in den nächsten Tagen von der Gewalt und den gemeldeten Verletzten: Zwei Journalisten, ein Demonstrant, kein Polizist. Die Aufnahmen in den Medien zeugen hauptsächlich vom Eingreifen der Polizei. Rund ein Dutzend Personen wurden verhaftet, die Kameras auf sie gerichtet.
Ein halbnackter Mann wird in ein Polizeiauto geführt, die Filmkamera im Rücken.
Ein halbnackter Mann wird in ein Polizeiauto geführt, die Filmkamera im Rücken. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
Mehrere Polizisten führen einen jungen Mann an Armen und Beinen knapp über dem Boden ab. Dicht daneben steht ein Fotograf mit seiner Kamera.
Mehrere Polizisten führen einen jungen Mann an Armen und Beinen knapp über dem Boden ab. Dicht daneben steht ein Fotograf mit seiner Kamera. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
Die Zeitung schnitt das Presseagenturbild der ASL zu, sodass der Fotograf gleich hinter den Polizisten nicht mehr zu sehen ist.
Die Zeitung schnitt das Presseagenturbild der ASL zu, sodass der Fotograf gleich hinter den Polizisten nicht mehr zu sehen ist. L’Express vom 20.10.1980 via lexpressarchives.ch
Die Aufnahmen zeigen: Foto- und Videokameras waren ebenso Teil der Protestbewegung wie die Wasserwerfer, Schlagstöcke und Korbschutzschilder auf der einen Seite und die Masken, Graffitis und Parolen auf der anderen Seite. Die Polizei verwendete die Aufzeichnungen der Verkehrskameras, die beim Place de la Gare zur Überwachung stationiert waren. Solche Aufnahmen von Teilnehmenden waren wertvolle Beweise, wenn es zu Prozessen kam. Bildmaterial zur Überwachung wurde aktiv erstellt, um Personen zu identifizieren und ihre Daten zu sammeln. Die Pressefotografen waren auf der Suche nach dem richtigen Moment für erfolgreiche Pressebilder. Ihre Kameraeinstellungen prägten das öffentliche Bild der Jugendunruhen in den Medien. Die Jugendbewegung Lôzane Bouge aber filmte, um ihr eigenes Bild der Unruhen zeigen zu können und so eine Gegenöffentlichkeit gegenüber der Öffentlichkeit zu erschaffen, die von den etablierten Institutionen dominiert wurde. Ihre Besetzung öffentlicher Räume – also Räume, in denen sich Menschen versammeln und informieren können, – beschränkte sich nicht nur auf Demonstrationen und kulturelle Jugendzentren, sondern zielte auch auf die Bildwelt ab. Die Videoaufnahmen wurden so für Lôzane Bouge zum Mittel, für die eigenen Anliegen einzustehen und ihr eigene Sichtweise zu verbreiten. Hier liegen die Anfänge einer neuen Medienwelt, in der nicht nur professionelle Medien, sondern auch die Demonstrierenden selbst filmen und fotografieren. Die Jugendbewegungen nahmen vorweg, was heute mit Social Media nicht mehr wegzudenken ist.

Die Presse­bild­agen­tur ASL

Pressebildagentur ASL
Actualités Suisses Lausanne (ASL) wurde 1954 von Roland Schlaefli gegründet und galt bis zur Schliessung 1999 als wichtigste Westschweizer Pressebildagentur. 1973 übernahm Schlaefli zudem das Archiv der 1937 gegründeten Agentur Presse Diffusion Lausanne (PDL). Die Bestände der beiden Agenturen umfassen ungefähr sechs Millionen Bilder (Negative, Abzüge, Diapositive). Im breiten Themenspektrum lassen sich die Schwerpunkte Bundespolitik, Sport und Westschweiz ausmachen. Den Schritt ins digitale Zeitalter machte die Agentur nicht mehr mit. Seit 2007 befinden sich die Archive von ASL und PDL im Besitz des Schweizerischen Nationalmuseums. Der Blog präsentiert in einer losen Abfolge Bilder und Bildserien, die bei der Aufarbeitung der Bestände besonders aufgefallen sind.

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