Blick in die Ausstellung «Deep Fakes: Art and Its Double».
Blick in die Ausstellung «Deep Fakes: Art and Its Double». EPFL Pavilions

Echt war gestern

Kopien haben in der Kunst einen zweifelhaften Ruf. Können die fast perfekten digitalen Simulationsmöglichkeiten das ändern? Das fragt eine Ausstellung an der EPFL Lausanne.

Hibou Pèlerin

Hibou Pèlerin

Seit vielen Jahren fliegt Hibou Pèlerin zu kulturhistorischen Ausstellungen. Für den Blog des Schweizerischen Nationalmuseums greift sich Pèlerin die eine oder andere Perle raus und stellt sie hier vor.

Als «Amplifier for Art, Science and Society», als Verstärker für Kunst, Gesellschaft und Wissenschaft definieren sich die «EPFL-Pavilions» in Lausanne. Die beiden 2016 vom japanischen Architekten Kengo Kuma entworfenen, so schlichten wie eleganten Gebäude auf dem Gelände der EPFL in Lausanne stellen disziplinenübergreifende Innovationen vor. Mit der Ausstellung «Deep Fakes – Art and Its Double» wird der Anspruch vorbildlich eingelöst. «Deep Fakes» sind computergenerierte Simulationen. Sie sind so perfekt, dass wir sie als Simulationen nicht mehr durchschauen. Bekannt sind insbesondere manipulative Videoclips, mit denen etwa Wahlen zunehmend unterwandert werden. Auch Chatbots oder selbst die immer raffinierteren Phishing-Mails, auf die wir hereinfallen sollen, gehören zur Palette der alltäglichen Täuschungsmanöver. Ihre zunehmende Perfektion hat mit den Mechanismen der künstlichen Intelligenz (AI) und entsprechenden Algorithmen zu tun. Sie analysieren blitzschnell unser Verhalten und reagieren darauf.

Neue Formen der Konser­vie­rung und Vermittlung

Aus gesellschaftlicher Perspektive sind «Deep Fakes» also eher beunruhigend. Doch in Lausanne stehen die positiven Anwendungen im Kunst- und Kulturbereich im Vordergrund. Geradezu exemplarisch dafür ist ein navigierbares Rendering von Notre Dame. Es ist schon 2014 für ein Computerspiel entstanden. Zwar stellt man rasch fest, dass die Simulation der realen Raumerfahrung in einer gotischen Kathedrale trotz aller Perfektion an Grenzen stösst, und wer je in Notre Dame war, mag melancholisch werden angesichts des schalen Ersatzes. Doch nach dem verheerenden Brand der Pariser Kathedrale sollte man solche Renderings nicht verschmähen. Zerstörte oder unzugängliche Originalbauwerke vermittelt sie jedenfalls um einiges besser als herkömmliche Fotografien oder Filme.
Reclining Pan (2018) von Oliver Laric.
Reclining Pan (2018) von Oliver Laric. EPFL Pavilions

Kopieren als Machtgeste

Damit sind wir schon mitten in einer Diskussion, auf die wir gleich zu Beginn des Parcours mittels eines historischen Dokuments hingewiesen werden. Es handelt sich um eine internationale Vereinbarung von 1867. Damals hatten sich diverse europäische Länder dazu verpflichtet, von ihren Kunstwerken «zum Wohle der Museen aller Länder» Kopien anfertigen zu lassen. Der Anstoss ging vom Londoner Victoria & Albert Museum aus, das damals, auf dem Höhepunkt der britischen Kolonialherrschaft, seine kunstgewerbliche Sammlung aufbaute. Ausgehend von den damaligen technologischen Entwicklungen, zu denen neuartige Abgussverfahren gehörten, wollte man eine möglichst weite Verbreitung der gesammelten Artefakte erreichen. Man mag das als Kulturimperialismus bezeichnen. Doch es geht hier auch um Modelle der Vermittlung und des kulturellen Austausches, wie sie heute aus anderer Perspektive wieder vermehrt diskutiert werden. Etwa im Zusammenhang mit der Rückgabe von Kunstwerken aus ehemaligen Kolonialstaaten in europäischen Museen an ihre (zumeist afrikanischen) Ursprungsländer.
Blick in die Ausstellung «Deep Fakes: Art and Its Double».
Blick in die Ausstellung «Deep Fakes: Art and Its Double». EPFL Pavilions
Daneben spielt die konservatorische Dimension eine gewichtige Rolle. Warum soll man unersetzliche Kunstwerke für Wechselausstellungen noch den erheblichen Risiken eines Transports rund um den Globus aussetzen, wenn dank hochentwickelter 3-D-Scanner (ein Exemplar des Top-Modells CultLab3D ist in der Ausstellung an der Arbeit) Faksimiles möglich sind, die zumindest Laien kaum als solche erkennen? Damit nicht genug: Auch der Massentourismus gefährdet Kunst, die zum kulturellen Menschheitserbe gehört. Daher sind etwa die berühmten, von buddhistischen Mönchen ausgemalten Höhlen von Mogao (Dunhuang, China) ähnlich wie jene von Lascaux inzwischen fürs Publikum geschlossen. In Lausanne kann man nun eine begehbare «Augmented reality»-Version einer solchen Höhle mit Hilfe eines Tablet erkunden. Sie wurde vom Künstlerduo Jeffrey Shaw und Sarah Kenderdine (die zugleich Kuratorin der gesamten Ausstellung ist) produziert und überzeugt durch ihren Detailreichtum. Noch dazu ist die Ökobilanz weit besser als die einer Flugreise nach China, von den Reisebeschränkungen durch die Pandemie zu schweigen.
Blick in die Ausstellung «Deep Fakes: Art and Its Double».
Blick in die Ausstellung «Deep Fakes: Art and Its Double». EPFL Pavilions

Diskus­si­on zum Thema im Landes­mu­se­um Zürich

17:30 – 19:30 mit Sarah Kenderdine, Patrick Michel, Anne Bielman und Michel Al Maqdissi Ausgangspunkt dieser Fokus-Veranstaltung ist die Ausstellung Deep Fakes: Art and Its Double. Sie stellt die entscheidenden Fragen über die Fähigkeit digitaler Repliken, das Publikum in dauerhafte emotionale Begegnungen mit universellen Kunstschätzen zu verwickeln. Im Zentrum der Diskussion steht der vom Islamischen Staat im Krieg zerstörte Tempel des Baalschamin in Syrien. Dieser wurde in den 50er Jahren vom Schweizer Archäologen Paul Collart ausgegraben und erforscht. Expertinnen und Experten referieren über den Sinn von virtuellen und reellen Rekonstruktionen und deren Bedeutung für die Bevölkerung in Syrien. Der Eintritt ist frei, eine Reservation ist obligatorisch.

Simula­tio­nen als Werbeträger

Das Paradebeispiel für virtuelle Rekonstruktionen ist die in der Ausstellung präsentierte, überaus aufwendige, in internationaler Zusammenarbeit von der Firma Iconem erstellte 3-D-Darstellung der im Syrienkrieg vom IS teilweise zerstörten antiken Tempelanlage von Palmyra. Sie bietet die Möglichkeit der Navigation durch verschiedene «Schichten» und wird angereichert durch die Präsentation der entscheidenden Dokumentation des Lausanner Archäologen Paul Collart. Dass solche Rekonstruktionen allerdings auch problematische Aspekte haben, thematisiert ein Dialog mit dem syrischen Archäologen Hasan Ali. Ali bestätigt unsere Erfahrung mit dem digitalen Rendering von Notre Dame: Wer das Original gekannt hat, bei dem verstärkt die Kopie eher die Trauer über den Verlust. Die Kulturgeschichte der letzten Jahrhunderte ebenso wie jene des entsprechenden Kulturtourismus belegt überdies, dass Abbildungen und Kopien den Drang zum Original erst recht anheizen. Wer einmal eine Abbildung der Mona Lisa gesehen hat, möchte sie unbedingt im Original sehen. Dass man sie im Louvre dann gar nicht besser sieht als auf einer Reproduktion, wird gerne verdrängt. Gerade besonders raffinierte Simulationen können aber auch ideologischen Zwecken dienen. Das zeigt ein aktuelles 3D-Projekt aus China mit der aufwendigen Rekonstruktion konfuzianischer Bogenschützenrituale. Es dient unter anderem dazu, die während Maos Kulturrevolution verdrängte Geschichte punktuell wiederzubeleben. Die Simulation wird damit zu einem Baustein bei der Herstellung einer idealen nationalen Identität.
Blick in die Ausstellung «Deep Fakes: Art and Its Double».
Blick in die Ausstellung «Deep Fakes: Art and Its Double». EPFL Pavilions

Kreativer Umgang mit Vorhandenem

Mit den 3D-Verfahren eröffnen sich auch der künstlerischen Kreativität neue Perspektiven. So nimmt der Künstler Terry Kilby das umstrittene Denkmal des Konföderierten-Generals Robert E. Lee in Richmond, Virginia (USA) zum Ausgangspunkt. Es war nach dem Mord am Schwarzen George Floyd («I can’t breathe») dicht mit Protestparolen übersprayt worden. Inzwischen wurde die Skulptur vom Sockel gehoben. Kilby macht den gesamten Prozess in einer simulierten Zeitreise interaktiv nachvollziehbar und dokumentiert damit exemplarisch eine hoch aktuelle Debatte. Auf der Basis von «Big Data» beruht die Skulptur «Helin» von Christian Mio Loclair. Aus einem Datenset von 120’000 Scans historischer Skulpturen hat er eine Art «Metaskulptur» aus einem Stein herausfräsen lassen. Sie soll eine Art Essenz des menschlichen Ausdrucks in der Skulptur darstellen. Die Idee ist bestechend. Das Resultat ist allerdings eher langweilig – Durchschnitt eben. Wesentlich irritierender ist «The Next Rembrandt» von Wunderman Thompson. Es handelt sich um ein brandneues Selbstporträt Rembrandts, das aus dreihundert Werken von ihm herausdestilliert wurde. Bei seiner Enthüllung 2016 sorgte es für riesigen medialen Wirbel. Das war allerdings auch schon seine Hauptfunktion, da es zur Werbeaktion einer Bank gehörte. Angesichts der regelmässig auf dem Kunstmarkt auftauchenden, bisher unbekannten «Meisterwerke» berühmter Künstler erinnert es daran, dass solche Spielereien mit Big Data auch für betrügerische Zwecke bestens geeignet sind.
«The Next Rembrandt» von Wunderman Thompson.
«The Next Rembrandt» von Wunderman Thompson. EPFL Pavilions

Entwick­lung mit offenem Ausgang

Insgesamt bietet die Lausanner Ausstellung einen überaus sehenswerten Einblick in eine Entwicklung, deren verschiedene Dimensionen in den nächsten Jahren noch einige Diskussionen auslösen dürften. Nur schon die Klassifizierung all der neuen Möglichkeiten, für die man in Lausanne Etiketten wie «Simulacrum», «Mimesis», «Post-Original», «Mirrorworld», «Reenactment», «Decolonial» bereithält, zeigt dies. Für den Museumsbetrieb und die Kulturvermittlung generell bieten die «cultural deep fakes» etliche Chancen. Es bleiben aber ebenso viele offene Fragen. Sie lassen sich zu einer Grundsatzfrage zuspitzen: Wird sich unser Verhältnis zum Original, das in unserer Kultur seit jeder einen besonderen Stellenwert hat, angesichts der neuen Technologien grundlegend verändern? Eine genauere Antwort auf die Frage, ob echt wirklich gestern war, wird wohl erst im Laufe der Zeit möglich sein.

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