Die SBB-Bahnhofsuhr von Hans Hilfiker, nach 1955.
Die SBB-Bahnhofsuhr von Hans Hilfiker, nach 1955. Schweizerisches Nationalmuseum

Die teure Schweizer Bahnhofsuhr

Das Berner Bundeshaus, die Luzerner Kapellbrücke, der Genfer Jet d’eau: Die Schweiz hat eine ganze Menge Wahrzeichen. Und doch: An eines davon denken wir nie, obwohl wir es täglich zu Gesicht bekommen: die Schweizer Bahnhofsuhr.

Thomas Weibel

Thomas Weibel

Thomas Weibel ist Journalist und Professor für Media Engineering an der Fachhochschule Graubünden und der Hochschule der Künste Bern.

Schweizer iPad-Userinnen und -User staunten an diesem Donnerstagmorgen, 20. September 2012, nicht schlecht: In der Nacht hatte Apple das lange erwartete Update seines Betriebssystems zur Version iOS 6 veröffentlicht. Eine der Neuerungen war ein Wecker – und, zur allgemeinen Überraschung, das Uhrendesign der klassischen Schweizer Bahnhofsuhr. Seit ihrer Einführung im Jahr 1947 ziert diese Uhr in vieltausendfacher Ausführung alle Bahnhöfe der SBB, und sie gilt weit über die Landesgrenzen hinaus als Klassiker des modernen Industriedesigns. Entworfen worden war die revolutionäre Uhr bereits 1944, vom Ingenieur und Selfmade-Designer Hans Hilfiker. Ursprünglich hatte der 1901 geborene Feinmechaniker Hilfiker an der ETH Elektro- und Fernmeldetechnik studiert. Danach begann ein berufliches Abenteuerleben in Südamerika, wo Hilfiker für das zu Siemens gehörende Albiswerk Zürich die Fernmeldetruppen der argentinischen Armee beriet, Telefonzentralen baute und militärisches Personal ausbildete, eine Telefonleitung mitten durch das Fluss- und Sumpfgebiet des Río Paraná baute, die Verlegung eines Seekabels durch das Delta des Río de la Plata plante und nicht zuletzt die Übernahme einer argentinischen Betriebsgesellschaft in Angriff nahm. Weil sich diese Pläne dann aber doch zerschlugen, kehrte Hilfiker im Alter von 30 Jahren in die Schweiz zurück.
Hans Hilfiker im Rahmen einer Ausstellung zu Schweizer Designpionieren im Kunstgewerbemuseum Zürich, Oktober 1984.
Hans Hilfiker im Rahmen einer Ausstellung zu Schweizer Designpionieren im Kunstgewerbemuseum Zürich, Oktober 1984. ETH-Bibliothek
1932 trat Hilfiker eine Stelle als Ingenieur in der SBB-Bauabteilung III an. Der Auftrag, den er nach seiner Beförderung zum Abteilungsleiter erhielt, war durchaus ambitioniert: Die SBB wünschten sich eine neue, äusserst robuste und zuverlässige Bahnhofsuhr, die nicht bloss die genaue Zeit anzeigen, sondern als Aushängeschild der Bundesbahnen gar Teil der nationalen Identität werden sollte. Hilfikers Antwort war ein radikal reduziertes Zifferblatt, das dank seiner Innenbeleuchtung bei jeder Tages- und Nachtzeit gut ablesbar war. Der Rest ist Geschichte: Bis heute zieren knapp 5000 vom Uhrenhersteller Moser-Baer AG in Sumiswald hergestellte, von rund 760 Hauptuhren gesteuerte Exemplare sämtliche Schweizer Bahnhofsgebäude. Bei der Uhr sollte es nicht bleiben – Hilfiker erfand am laufenden Band: Er entwickelte einen neuartigen Bockkran für das Verladen tonnenschwerer Güter von Last- auf Bahnwagen, geradezu futuristische Perrondächer für den Bahnhof Winterthur-Grüze, einen Fahrplanprojektor für den Bahnhof Zürich sowie ein heute unter Denkmalschutz stehendes Dienstgebäude für den Fahrleitungsunterhalt im Zürcher Vorbahnhof. Seine wohl berühmteste Erfindung aber sollte die Bahnhofsuhr bleiben.
Perrondächer des Bahnhofs Winterthur-Grüze, entworfen von Hans Hifiker, Aufnahme von 1992.
Perrondächer des Bahnhofs Winterthur-Grüze, entworfen von Hans Hifiker, Aufnahme von 1992. ETH-Bibliothek
Hilfikers minimalistischer Entwurf von 1944 war ein radikaler Bruch mit den verschnörkelten Zifferblättern aus der Zeit des Jugendstils: weisser Hintergrund; eine Stunden- und Minuteneinteilung aus strengen schwarzen Rechtecken; keinerlei Zahlen; streng geometrische, sich elegant verjüngende Zeigerbalken – und nicht zuletzt ein schlanker roter Sekundenzeiger mit einer roten Scheibe, die an die Kelle des Bahnhofsvorstehers erinnert und das sekundengenaue Ablesen der Uhr auch aus grosser Distanz ermöglicht. Hilfikers Design war so elegant, zeitlos und funktional, dass sich heute fast alle Industrie- und Bahnhofsuhren der Welt daran orientieren. Die SBB-Uhr hat es ins Londoner Design Museum und ins Museum of Modern Art, New York, geschafft, und seit 1986 gibt es sie sogar als Miniatur fürs Handgelenk, produziert vom Schweizer Uhrenhersteller Mondaine.
Werk einer Schweizer Bahnhofsuhr, hergestellt von Mobatime, Modell 1947–1959.
Werk einer Schweizer Bahnhofsuhr, hergestellt von Mobatime, Modell 1947–1959. Wikimedia
«I han en Uhr erfunde, wo geng nach zwone Stunde blybt stah», sang der Berner Liedermacher Mani Matter 1966. Auch Hilfikers Bahnhofsuhr bleibt immer wieder stehen: Jedes Mal, wenn der Sekundenzeiger die Zwölf erreicht, macht er eine kurze Pause, bis der Minutenzeiger vorspringt und die rote Kelle wieder Fahrt aufnimmt. Der Grund für diesen eigenartigen Sekundenstopp liegt in der Technik. 1947, als Hilfikers neue Uhr eingeführt wurde, war eine sekundengenaue Synchronisation noch nicht möglich; die für die Steuerung verantwortlichen Hauptuhren lieferten nur einmal pro Minute, bei genau null Sekunden, einen elektrischen Impuls, der die Ganggenauigkeit aller angeschlossenen Uhren sicherstellte. Weil die SBB-Uhr aber dennoch die Sekunden anzeigen sollte, griff Hilfiker in die Trickkiste und liess den roten Zeiger durch einen gewöhnlichen Elektromotor antreiben. Der war nicht sonderlich genau und musste daher ein bisschen zu schnell eingestellt werden, so dass der Sekundenzeiger die Zwölf stets eine bis zwei Sekunden zu früh erreichte, um dann auf das Minutensignal zu warten. Auch wenn eine sekundengenaue Synchronisation mittlerweile ohne weiteres möglich wäre: Die SBB-Bahnhofsuhr ist tatsächlich ein nationales Erkennungsmerkmal geworden, und so ticken die Uhren der SBB bis heute wie zu Hilfikers Zeiten, Sekundenstopp bei zwölf Uhr inklusive.
Zur vollen Minute macht der Sekundenzeiger auf der SBB-Uhr eine kurze Pause. Schweizerisches Nationalmuseum
Dass Apple 2012 Hilfikers Uhr seinem iPad-Betriebssystem einverleibte, war ein Coup: Hochstehendes Design war schon immer schon ein Markenzeichen des kalifornischen Techgiganten gewesen. Die Sache hatte allerdings einen Haken: Das Aussehen des Uhrenklassikers ist rechtlich streng geschützt. Die SBB waren zwar durchaus geschmeichelt, dass es ihre Uhr bis auf die Tablets aus dem Hause Apple geschafft hatte, doch die unautorisierte Nutzung des Designs war ein Ärgernis. Die Bundesbahnen wurden in Cupertino vorstellig, hinter den Kulissen wurde zäh verhandelt, und am Ende verschwand Hilfikers Uhr mit der nächsten OS-Version sang- und klanglos wieder von den iPads. Damit nicht genug: Apple erklärte sich bereit, eine Strafgebühr zu bezahlen, deren Höhe nie offiziell bekanntgegeben wurde. Recherchen der Schweizer Presse ergaben: Rund 20 Millionen Franken sollen es gewesen sein.

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